Wenn es pfeift und brummt im Ohr
Ein lautes Konzert, ein knallendes Feuerwerk, Stress im Job: Plötzlich bleibt ein dauerhaftes Sausen im Ohr. Was kann man gegen einen Tinnitus tun?
aktualisiert am 18. Juli 2019 - 10:58 Uhr
Das Konzert ist laut , die Bässe lassen die Luft richtiggehend vibrieren: Begeistert verlassen die Zuschauer nach der letzten Zugabe die Halle. Draussen klingt die Musik noch nach in ihren Ohren. Doch plötzlich, als es um sie herum wieder ruhiger ist, hört eine Konzertbesucherin – nennen wir sie Katja – einen lauten, hohen Pfeifton im linken Ohr. Sie steckt den Zeigefinger in den Gehörgang, zieht am Ohrläppchen, schüttelt den Kopf – das Pfeifen bleibt.
Auch am nächsten Morgen ist es noch da. Ihr Hausarzt schickt sie zu einem Spezialisten für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. «Tinnitus», diagnostizierte der Arzt – Ohrensausen. Schätzungsweise sind etwa 15 Prozent der Bevölkerung vorübergehend oder dauerhaft von einem Tinnitus betroffen. Manche hören es pfeifen , andere summen oder rauschen. Am deutlichsten ist das Geräusch zu hören, wenn es still ist.
Einige quält der Tinnitus derart, dass sie unter Schlafstörungen, Depressionen und Übelkeit leiden oder sogar an den Rand der Verzweiflung geraten. Die Ursachen von Ohrgeräuschen sind ebenso vielfältig wie die «Klangvarianten» (mehr dazu in der Infobox unten «Tinnitus-Töne»). Etwa bei einem Drittel der Kranken ist ein Lärmtrauma schuld: zu laute Musik, Lärmbelastung bei der Arbeit , Motorengeräusche oder ein Silvesterknaller.
Aber es gibt auch zahlreiche Erkrankungen, die zu Ohrensausen führen können – zum Beispiel Bluthochdruck, Gefässveränderungen im Bereich des Ohrs, Fehlfunktionen des Kiefergelenks, Veränderungen der Halswirbelsäule, ein Hörsturz oder Ohrenentzündungen. Auch gewisse Medikamente, Alkohol, Nikotin und Koffein, zumindest in höheren Dosen, können zu Tinnitus führen.
Auch die Psyche scheint beim Ohrensausen eine wichtige Rolle zu spielen. Etwa die Hälfte der Betroffenen leidet unter grosser psychischer Belastung . Es sind vor allem «Perfektionisten»: Menschen, die stets pünktlich sind und zuverlässig, korrekt und pflichtbewusst. Der Körper und die Seele stehen unter Druck, und es werden immer mehr Stresshormone ausgeschüttet. Dadurch reagiert das Gehör empfindlicher und registriert mehr Töne als sonst.
Ein gutes Gehör dient unter anderem dem Schutz vor Gefahr: Ungewöhnliche Geräusche schrecken einen zum Beispiel sogar aus dem Schlaf auf, damit man im Notfall rechtzeitig fliehen kann. Wird das Ohr aber mit zu viel Stresshormonen überschüttet, können diese nicht mehr abgebaut werden. Die Folge: Die Blutgefässe verengen sich, und die Fliesseigenschaften des Bluts werden schlechter. Das führt zu einer Durchblutungsstörung im sensiblen Innenohr. Betroffen sind jene Zellen, die das Hören ermöglichen: die nur gerade drei Tausendstelmillimeter langen Haarzellen.
Diese Sinneszellen des Gehörs sehen aus wie Halme auf einem Ährenfeld. Sie sitzen auf den Windungen der Schnecke, dem mit Flüssigkeit gefüllten Hörorgan. Beim Hören streicht der Schall über die Haarzellen hinweg, wodurch diese – wie Ähren im Wind – in Schwingung geraten. Diese Bewegung gelangt als akustischer Reiz zum Gehirn. Wird das Innenohr geschädigt, können die Haarzellen aufquellen, abreissen oder umknicken und dabei benachbarte «Halme» berühren – und diese schicken dann ein falsches Signal zum Gehirn – das Ohrensausen beginnt.
Bei über drei Viertel der Betroffenen tritt ein Tinnitus nur vorübergehend auf und verschwindet von allein wieder. Bei 10 bis 14 Prozent der Erwachsenen dauert das Ohrensausen wochen- bis monatelang, vereinzelt auch lebenslang.
Die Chance, den Tinnitus zu heilen, besteht nur in einem sehr kleinen Zeitfenster. «Wenn der Tinnitus beispielsweise nach einem Konzert- oder Discobesuch nicht innerhalb von 24 Stunden verschwindet, sollte man einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufsuchen», rät der Bündner Arzt Andreas Schapowal von der Schweizerischen Tinnitus-Liga. Der Spezialist führt dann eine Hörprüfung durch und setzt Kortison ein. Zur besseren Durchblutung verabreicht Schapowal zusätzlich einen Ginkgo-Blattextrakt. «Etwa einem von fünf Patienten hilft diese frühe Therapie, und der akute Tinnitus verschwindet in den ersten drei Monaten wieder.» Bei den restlichen 80 Prozent erholen sich dagegen die Sinneszellen nicht mehr, der Tinnitus bleibt chronisch.
Die Behandlungsmethoden sind über die Jahrhunderte glücklicherweise immer verbessert worden. Der Gelehrte Plinius empfahl in der Antike einen speziellen Sud: in Honig gekochte Haselmäuse, in Öl verriebene rote Würmer, konservierte Blindschleichen und mit Rinde vom Granatapfelbaum gekochte Tausendfüssler…
Über die Heilungsrate, die mit dieser «Suppe» erreicht wurde, weiss man nichts. Die heutigen Therapien jedenfalls sind appetitlicher – und bei akutem Tinnitus oft erfolgreich. Medikamente zur Linderung eines chronischen Tinnitus gibt es nicht. Dennoch können die meisten Betroffenen gut damit leben und brauchen keine Behandlung.
«Je länger die Leidensphase dauert, umso mehr steigert sich der Patient in den Tinnitus hinein.»
Andreas Schapowal, Präsident der Schweizerischen Tinnitus-Liga
Andere dagegen stört der Dauerton sehr. Sie sollten so früh wie möglich mit einem Arzt, einer Ärztin sprechen. «Je länger die Leidensphase dauert, umso mehr steigert sich der Patient in den Tinnitus hinein», so Schapowal. Ein Teufelskreis entsteht. Die psychischen Folgen sind dann oft gravierender als der Tinnitus selbst. Dann leiden der Schlaf, der ganze Alltag, die Arbeit und die sozialen Kontakte.
Erst vor einigen Monaten hat eine Studie im renommierten «New England Journal of Medicine» zusammengefasst, welche Therapien nachweislich nützen – und welche nicht. Für oft angebotene Therapien wie Akupunktur, Antidepressiva oder Schlafmittel lässt sich in Studien demnach keine Wirksamkeit gegen die Ohrgeräusche nachweisen.
Was hilft? Oft schon ein aufklärendes Gespräch mit dem Arzt. «Er erklärt, wie der Tinnitus zustande kommt, dass er kein Anzeichen einer bedrohlichen Krankheit ist. Und dass dadurch keine weitere Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit entsteht», sagt Schapowal. Wichtig zu wissen ist für Betroffene auch, dass sich die Lautstärke des Tinnitus nicht ändert, er aber etwa bei Stress oder Müdigkeit lauter wahrgenommen wird.
Bei chronischem Tinnitus besteht gute Aussicht auf Linderung mit der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT). Dabei soll das Ohrgeräusch von einer allgegenwärtigen, ständigen Wahrnehmung in eine Nebensache «umgewandelt» werden – durch ein winziges Klanggerät («Masker», «Noiser»). Sie erinnern vom Aussehen her an ein Hörgerät und erzeugen ein individuell einstellbares, neutrales Rauschen, das den Tinnitus-Ton zwar nicht überlagert, ihn aber aus dem Fokus der Wahrnehmung rückt. So kann sich das Gehirn wieder auf normale Geräusche in der Umwelt konzentrieren.
Für schwerhörige Menschen gibt es Kombinationen aus Hörgerät und Rauschgenerator. Mittlerweile existieren auch Apps für das Smartphone, die Rauschen abspielen.
Schliesslich hilft die kognitive Verhaltenstherapie. Sie soll zeigen, dass man etwas gegen den Tinnitus tun kann, indem man richtig mit ihm umgeht, statt ihn zu bekämpfen. «Etwa 80 Prozent der Betroffenen empfinden den Tinnitus nach der Therapie als weniger störend und haben dadurch wieder mehr Lebensfreude», sagt Fachmann Schapowal. Am besten wirke eine Kombination der Therapien.
In jedem Fall lohnt es sich, seinen Lebensstil genauer unter die Lupe zu nehmen, und gegebenfalls anzupassen – mit weniger Stress, weniger Kaffee und am besten ohne Nikotin .
- Bei Konzerten Gehörschutz oder Ohrstöpsel tragen.
- Sich nicht direkt bei den Boxen aufhalten.
- Nach einem lauten Abend dem Gehör eine Auszeit gönnen.
- Musik über Kopfhörer nicht lange auf hoher Lautstärke abspielen.
- Bei Tätigkeiten wie Musizieren, Heimwerken oder Schiessen einen Gehörschutz tragen.
- Bei der Arbeit an lauten Maschinen immer einen Gehörschutz tragen.
- Akute Ohrenentzündungen beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt behandeln lassen.
- Stress abbauen , etwa mit Yoga oder Sport.
- Bei grossen seelischen Problemen psychologische Hilfe suchen.
- Bei einem Hörsturz oder einem neuen Dauerton sofort zum Arzt.
- Gesunde Ernährung , keine Drogen, kein Nikotin, Alkohol mit Mass.
- Mit einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt sprechen, bevor das Problem psychisch dominant wird.
- Wenn der Tinnitus nur in bestimmten Situationen stört – etwa beim Einschlafen oder beim konzentrierten Arbeiten –, reicht eventuell eine kostenlose App wie «Zen Tinnitus» fürs Smartphone, die über Kopfhörer neutrales Rauschen und beruhigende Klänge bietet.
- Ebenfalls mit Rauschen funktionieren Masker oder Noiser im Ohr, die aber weit über 1000 Franken kosten. Bei Schwerhörigkeit zahlen Krankenkassen eventuell einen Teil.
- Stress abbauen, etwa mit Entspannungstechniken.
- Kognitive Verhaltenstherapie einzeln oder in Kleingruppen hilft, mit dem Tinnitus leben zu lernen.
- Schweizerische Tinnitus-Liga: www.tinnitus-liga.ch
- Organisation für Menschen mit Hörproblemen, Liste von Fachärzten: www.pro-audito.ch
- Hear-It AISBL ist eine unabhängige Vereinigung, die sich aus der «International Federation of the hard of hearing (IFHOH), der European federation of hard of hearing people (EFHOH) und der European Association of hearing aid professionals (AEA) zusammensetzt. Die Vereinigung hat sich zum Ziel gesetzt, alle aktuellen wissenschaftlichen, soziologischen. juristischen, medizinischen und gesellschaftspolitischen Infos zum Thema Tinnitus und Schwerhörigkeit zusammen zu tragen: www.hear-it.org
- Spezialklinik in Chur: www.tinnitusklinik.ch
- Verband der Hörgeräteakustik: www.gut-hoeren.ch
2 Kommentare
Was ist aber, wenn der Tinnitus im Kopf wahrgenommen wird.
Es pfeifft > 80dB nicht im Ohr, sondern im Kopf
Herr Schaad ,ich weiss wovon sie sprechen.
Sie können mich gerne kontaktieren.