Was Dr. Chatbot kann – und was nicht
Wie Apps helfen, Depressionen und Ängste wegzuchatten. Und warum es den Arzt noch immer braucht.
Veröffentlicht am 26. Mai 2021 - 14:31 Uhr
Sich um seine psychische Gesundheit zu kümmern, das ist in Krisensituationen wie einer Pandemie besonders wichtig. Aufkommende dunkle Gedanken und Ängste gleich zu Beginn zu entschärfen und ihnen etwas entgegenzusetzen, hilft definitiv besser, als zuzuwarten, bis sich das Problem manifestiert hat. In solchen Situationen kann man sich nicht nur beim Psychologen Hilfe holen, der teuer und derzeit auch überlastet ist. Spezielle Apps können eine Alternative sein.
Chatbots sind darauf spezialisiert, sich wie ein Mensch mit dem Nutzer der App zu unterhalten. Dahinter stehen Algorithmen, die auf die Eingabe des Nutzers passend reagieren, indem sie mittels einer grossen Datenbank und zum Teil durch Routinen der künstlichen Intelligenz eine passende Antwort liefern. Forscher arbeiten intensiv daran, Patienten das Management ihrer Erkrankung über einen Chatbot zu erleichtern. Im Bereich der Psychologie scheinen die Möglichkeiten besonders gross zu sein.
«Nicht jeder, den etwas bedrückt, hat schnell Zugang zu einem Psychologen, manche haben Scheu, sich vor anderen zu öffnen, und für manche ist es ein Eingeständnis persönlicher Schwäche, wenn man sich professionelle Hilfe holt», sagt Manuel Kraus, Mitgründer des österreichischen Chatbot-Anbieters Pocketcoach, der in London positive Psychologie studiert hat. Für diese Menschen seien Chatbots eine niederschwellige, anonyme und günstige Methode, um in akuten Krisen mit negativen Gedanken, Gefühlen und Sorgen unkompliziert Hilfe zu bekommen.
Die Nachfrage nach Apps für die psychische Gesundheit hat im Lauf der Pandemie sprunghaft zugenommen. Doch nur wenige Chatbots arbeiten wie Pocketcoach (deutsch, iOS und Android) und Woebot (englisch, iOS und Android) nach wissenschaftlichen Methoden und orientieren sich durch ihre Algorithmen am Ablauf eines therapeutischen Gesprächs. So entsteht der Eindruck, als ob man über Whatsapp mit seinem Psychologen kommunizieren würde.
Die programmierten Antworten haben Psychologen und Therapeuten auf der Grundlage von Erfahrungen ihrer klinischen Tätigkeit erstellt. «Das macht solche Chatbots authentischer und persönlicher, als es zum Beispiel jemand ist, der mir nur etwas verkaufen will und über sein Produkt informiert», sagt Manuel Kraus.
Zumindest bei Pocketcoach und Woebot kann der Nutzer davon ausgehen, dass seine Probleme und Sorgen nicht Dritten preisgegeben werden, denn der Chat funktioniert auch ohne Registrierung. Andere Chatbots nutzen den Facebook-Messenger als Plattform, um sich mit dem Patienten auszutauschen. Was der US-Anbieter mit dem Chatverlauf anfängt, ist unklar.
Die App als Lebenscoach
Die Apps lassen sich so einstellen, dass sich der Chatbot täglich nach dem Befinden des Nutzers erkundigt. Oder der Nutzer startet die App bei Bedarf, etwa bei Stress, wenn er den Anflug einer Panikattacke spürt, ihn Sorgen plagen, er seine Arbeit ständig vor sich herschiebt oder Schlafprobleme
hat.
Der Chatbot stellt dem Nutzer dann konkrete Fragen zu seinem Problem und begleitet ihn durch die Situation. Die Lösungsvorschläge orientieren sich an etablierten Methoden der Verhaltenstherapie und kommen dem nahe, was auch ein Therapeut in der Situation seinem Patienten riete.
«Der Chatbot kann zwar nicht wie ein erfahrener Therapeut die Lebensumstände des Nutzers erfragen und bei den Antworten zwischen den Zeilen lesen», sagt die Psychologin Christiane Eichenberg, Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Deshalb eigne er sich auch nicht zur Therapie schwerwiegender psychischer Störungen. «Aber die Chatbots sind ein Selbsthilfe-Tool, das dem Nutzer konkret aufzeigt, wie er durch Änderung seines Verhaltens, seiner Routine, seiner Gewohnheiten und Denkmuster sein Problem selbständig bewältigen kann.» Bei einer Panikattacke können sie beispielsweise Entspannungs- oder Atemübungen sowie vorbeugende Massnahmen empfehlen.
Im Prinzip könnte sich der Nutzer dieses Wissen auch über die Lektüre eines Sachbuchs oder die Recherche im Internet aneignen. «Aber die Konversation mit einem Chatbot spiegelt quasi die traditionelle Weise wider, wie man im Austausch von Mensch zu Mensch medizinische Informationen erhält», sagt Joseph Ollier, Forscher am Centre for Digital Health Interventions, einer gemeinsamen Initiative der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Universität St. Gallen. Denn durch die Eingaben des Nutzers lerne der Chatbot seinen «Patienten» nach und nach immer besser kennen und könne so auch immer passgenauere Informationen und Hilfe liefern. Ollier entwickelt zusammen mit Medizinexperten Chatbots, die medizinisches Fachpersonal in der Corona-Pandemie mental unterstützen.
Mehr als nur Placebo-Effekt?
Bis jetzt lassen sich wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit der Chatbots allerdings noch an einer Hand abzählen. Sie liefern erste Hinweise, dass Chatbots einen positiven Effekt besitzen, aber wie gross der ist, bleibt noch unklar. Der Anbieter Pocketcoach arbeitet gerade mit universitärer Unterstützung an zwei Studien, die den Nutzen des Chatbots untersuchen sollen.
Der Anbieter Woebot startete mit der wissenschaftlichen Evaluation bereits 2017. Er versorgte junge Erwachsene, die über akute Probleme mit Angst und Depressionen klagten, zwei Wochen lang mit der Woebot-App oder mit einem Sachbuch zur Selbsthilfe. Nach zwei Wochen konnten die Mitglieder der Gruppe, die täglich mit Woebot chattete, ihre Depressionen um 20 Prozent reduzieren.
Bei der Gruppe, die nur mit dem Sachbuch arbeitete, stellte sich dagegen keine Verbesserung ein. Über ähnliche Zahlen berichtet auch Pocketcoach. «Möglicherweise basiert ein Teil davon auch auf dem Placebo-Effekt
», sagt Manuel Kraus. «Aber selbst dann hätte der Chatbot seinen Nutzen belegt.»
Letztendlich aber, hier sind sich Wissenschaftler und Anbieter einig, sei ein Chatbot nur ein Puzzleteil, das dazu beitragen kann, die mentale Gesundheit Hilfesuchender zu stärken. Daneben brauche es weitere Massnahmen wie genügend Schlaf, soziale Kontakte, regelmässige Bewegung an der frischen Luft und eine ausgewogene Ernährung. Und die Einsicht, so Christiane Eichenberg, «einen menschlichen Psychotherapeuten aufzusuchen, wenn der Chatbot nicht ausreicht».
Wie stärke ich meine psychische Gesundheit?
Der Beobachter-Gesundheits-Newsletter. Wissen, was dem Körper guttut.
Lesenswerte Gesundheitsartikel mit einem wöchentlichen Fokusthema. Jeden Montag.