Was bringt Mentaltraining?
Viele Sportler und Manager setzen auf Mentalcoaching. Was macht ein solches Training mit einem Durchschnittsmenschen? Ein Selbstversuch.
aktualisiert am 31. Januar 2019 - 14:55 Uhr
Nervös öffne ich die Tür zum Schulzimmer. Die Studenten sitzen schon da, gleich muss ich mit dem Unterricht beginnen. Die Beine zittern, im Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus. Ich forme Zeige-, Mittelfinger und Daumen der rechten Hand zu einem spitzen Dreieck, als nähme ich eine Prise Salz auf: So aktiviere ich meine mentale Stärke.
Ich schliesse die Augen. Lichtstrahlen brechen durch Baumkronen, am tiefblauen Himmel sind vereinzelt weisse Wölkchen zu sehen. Die Waldlichtung ist dicht mit Brombeerstauden bewachsen, es riecht nach Tannenharz, Brennnesseln, Moos. «Ich stehe zu mir», sagt meine innere Stimme überzeugt. Ich werde ruhig, öffne die Augen – und bin wieder im Schulzimmer.
Wenn mir vor vier Monaten jemand gesagt hätte, dass eine Handvoll Sätze, die ich mehrmals täglich aufsage, meine Gemütsverfassung auch nur irgendwie beeinflusst, hätte ich belustigt die Augenbraue hochgezogen. Ebenso, wenn jemand gedankliche Waldspaziergänge empfohlen hätte.
Die malerische Waldlichtung ist mein sicherer Ort, an den ich mich jederzeit gedanklich zurückziehen kann. «Refugium» nennt es Jörg Wetzel. Er ist Sportpsychologe und Mentalcoach. Im Monatsrhythmus fahre ich zu ihm nach Bern. Wetzel analysiert, was mich ausmacht, wie ich ticke; und bringt mir die Methoden des Mentaltrainings bei. Methoden, die Spitzensportler und Manager zu Höchstleistungen bringen sollen.
«Alles, was ich vorbereitet habe, kommt mir plötzlich banal vor.»
Chantal Hebeisen, Journalistin und Dozentin
Das Ziel, das ich mit Wetzels Hilfe angehen will: eine selbstbewusste und geerdete Ausstrahlung bei Präsentationen. Denn ich rede nicht gern vor vielen Leuten. Ein Problem, wenn man – wie ich – auch als Dozentin für Online-Journalismus arbeitet. Zweifel begleiten mich bei jedem Klick in der Präsentation, bei jedem Kreidestrich auf der Wandtafel: «Ist es das, was man von mir erwartet?», «Wieso tu ich mir das an?» oder «Ich genüge nicht». Das Unbehagen lässt sich nur schwer verstecken. Alles, was ich in tagelanger Arbeit vorbereitet habe und von dem ich dachte, dass es sinnvoll sei, kommt mir plötzlich lächerlich und banal vor.
Gegen diese Zweifel soll Mentaltraining helfen. Dabei kann es darum gehen, tief verankerte, unbewusste Denkmuster so zu lenken, dass Ängste und negative Gedanken einen nicht hindern, sein Bestes zu geben.
Das Gespräch mit Jörg Wetzel beginnt harmlos. Ich erzähle von der 35-jährigen Journalistin mit Mann und kleinem Kind, die sich mit dem Unterrichten ein zweites Standbein aufbauen möchte, aber Kurs für Kurs das Gefühl hat, zu scheitern. «Wie wichtig sind Ihnen Autonomie, Zugehörigkeit und Kompetenz?», fragt Wetzel. Brav zeichne ich eine Säulengrafik. Autonomie: sehr wichtig. Zugehörigkeit: mittlere Wichtigkeit. Kompetenz: sehr wichtig. Es fällt mir leicht, diese Frage zu beantworten – noch kann ich mich an der Oberfläche bewegen.
«Man kann nicht über jeden Menschen das gleiche Mentaltraining stülpen und erwarten, dass es eine Wirkung zeigt.»
Jörg Wetzel, Sportpsychologe FSP und Mentalcoach
Doch ich wundere mich, was das Ganze mit Mentaltraining zu tun hat. «Ein Kopfmensch wie Sie will natürlich gern Methödeli ausprobieren, damit es dann auch was zu schreiben gibt», nimmt Wetzel mich augenzwinkernd auf die Schippe. Keine Sorge, das komme noch, versichert er. Aber man dürfe nicht über jeden die gleiche Methode stülpen und erwarten, dass sie Wirkung zeige. Darum analysiere er erst, was für ein Mensch vor ihm sitze.
«Woher kommt dieser unbändige Wunsch nach Autonomie?», fragt Wetzel. Die Rückfrage führt zu einer Kaskade an Emotionen: Ich muss alles in die Waagschale werfen und weit in meine Vergangenheit zurück, bis in die Kindheit. Es ist der Moment, in dem ich meine Wohlfühlzone verlassen muss. Es ist der Anfang einer intensiven und sehr persönlichen Coaching-Zusammenarbeit.
Ich lerne, die Gedanken auszusprechen, die in schwierigen Situationen im Kopf umhergeistern und mich verunsichern: «Was denken wohl die Studierenden von mir?» Oder: «Ein anderer könnte das bestimmt besser.» Schritt für Schritt erarbeite ich mit Wetzels Hilfe das sogenannte Reframing, eine Umdeutung: positive Sätze, die ich den negativen Schreckgespenstern entgegenstellen kann.
Doch viele dieser positiven Aussagen befriedigen mich zunächst nicht – sie wirken wie billige Werbesprüche für meine Person. Je länger ich das positive Gegenstück zum negativen Gedanken suche, desto weniger haben die beiden Aussagen einen gemeinsamen Inhalt. Und irgendwann wird aus «Was denken wohl die anderen?» ein: «Ich bestimme, wie ich mich fühle!» So stimmt das für mich.
«Wenn Sie als Kopfmensch Bauch und Herz nicht miteinbeziehen, werden sie zu Störfaktoren.»
Jörg Wetzel, Mentalcoach
Nun folgt das eigentliche Training: Lernkärtchen erstellen, die positiven Sätze mehrmals täglich repetieren. Damit, sagt Wetzel, sickern sie langsam vom Bewusstsein ins Unbewusste. Wenn das Wissen erst mal dort angelangt ist, beeinflusst es mein Verhalten und mein Befinden ähnlich positiv wie etwa die Aussicht, ein Stück Schokolade essen zu können.
Dann kondensieren wir die sieben langen Sätze zu fünf knappen Aussagen, die Wetzel mir als Audiodatei auf das Handy spricht. Von nun an meditiere ich auf dem Arbeitsweg je fünf Minuten mit Wetzels Stimme im Ohr. «Ich stehe zu mir», «Ich bleibe offen für Neues» oder «Ich darf Fehler machen» wabern zu meinem entspannten Ich, damit ich die Sätze und die positiven Gefühle später innert Sekunden abrufen kann: mit dem Dreieck, das ich mit den Fingern forme.
«Das ‹Einatmen bis zu den Zehenspitzen› war mir dann doch zu ‹gspürschmi-fühlschmi›».
Chantal Hebeisen, Journalistin
Nicht alles, was Wetzel in den Coachings vermittelt, ist überraschend. Aber er bringt mich zum Nachdenken. Wie beeinflusst es mich, wenn ich als kopflastiger Mensch Unterrichtslektionen allein mit dem Kopf angehe? «Wenn Sie Bauch und Herz nicht miteinbeziehen, werden sie zu Störfaktoren. Und die versuchen, an der Säule zu rütteln, auf der Sie als Expertin stehen», sagt Wetzel. Also übe ich, von der gedanklichen Säule hinunterzusteigen: indem ich mir diese Bewegungen vorstelle – Visualisieren, meine dritte Trainingsmethode.
Andere Methoden, die Wetzel mir vorgeschlagen hat, habe ich hochkant über Bord geworfen, etwa das «Erden». Das «Einatmen bis zu den Zehenspitzen» war mir dann doch zu «gspürschmi-fühlschmi» .
Natürlich gibt es Tage, an denen die «daily hassles», die kleinen Ärgernisse des Alltags , besonders unerträglich sind. Etwa wenn sich zum hohen Arbeitspensum private Probleme gesellen. «Es kommt mir vor, als würden mich alle Leute überholen, während ich zu Jörg Wetzels Praxis schleiche», schrieb ich mal in mein Coaching-Tagebuch. Sich an solchen Tagen mit sich selber beschäftigen zu müssen lässt die Motivation gegen null sinken.
«Ich lerne zu akzeptieren, dass auch schlechte Tage und Fehler dazugehören.»
Chantal Hebeisen
Doch auch das hat Platz bei Wetzel. In solchen Momenten erklärt er etwa, warum das Bauchgefühl wichtig ist . Das weckt Interesse – und vertreibt die Null-Bock-Stimmung. Er gibt einem das Gefühl, dass man einfach sich selbst sein kann – mit allem, was dazugehört.
Es ist dieses Gefühl, das mich über die Coachings hinaus begleitet: zu akzeptieren, dass auch schlechte Tage und Fehler dazugehören. Zu meinen Werten und Ansichten zu stehen – auch wenn das in manchen Situationen unangenehm ist. Jörg Wetzel hat keinen neuen Menschen aus mir gemacht. Aber er hat die Skeptikerin in mir überzeugt. Heute helfen mir Übungen, die ich früher als Esoterik-Kram abgetan habe.
Was ist Mentaltraining?
Der Begriff Mentaltraining ist nicht klar definiert. Unterschiedlichen Auffassungen gemein ist aber die Ansicht, dass man seine Leistung mental beeinflussen kann – sei es im sportlichen, beruflichen oder privaten Bereich. Erste Therapieansätze wurden bereits 1908 entwickelt. In der Schweiz fanden Methoden des mentalen Trainings ab Mitte der sechziger Jahre den Weg in den Profisport.
Wie finde ich einen guten Mentaltrainer?
Mentaltrainer ist kein geschützter Begriff, es gibt auch viele zweifelhafte Angebote. Gut ausgebildet sind die Mitglieder der Swiss Association of Sport Psychology (SASP). Sie haben eine Erwachsenenbildung in mentalem Training absolviert (zum Beispiel «CAS Psychologisches und mentales Training im Sport» der ZHAW) und unterliegen der Schweigepflicht. Wenn man tiefer greifende Problemstellungen angehen will, sei ein Psychologe mit Zusatzausbildung zum Sportpsychologen zu empfehlen, sagt Romana Feldmann von der SASP. «Trainings wie Feuerlaufen gehören nicht zu den anerkannten Methoden.» Auch wenn ein Trainer Heilungsversprechen macht oder mit den Erfolgen bekannter Athleten wirbt, sollte man vorsichtig sein.
Wie lange dauert ein Training, und was kostet es?
Wie viele Sitzungen notwendig sind, hängt von der Fragestellung ab. Expertin Romana Feldmann empfiehlt für einfache Fälle drei bis sechs Sitzungen. Die Stundenansätze liegen zwischen 120 und 240 Franken. Im Vorfeld klären sollte man, ob der Mentalcoach die Vor- und Nachbereitung separat verrechnet.
Die Swiss Association of Sport Psychology (SASP) führt eine Liste mit gut ausgebildeten Mentaltrainern: www.sportpsychologie.ch