Das Ende einer Schweizer Tugend?
Wer ständig zu spät kommt, verdammt andere zum Warten. Und verplempert ihre Zeit. Unsere Autorin leidet.
aktualisiert am 16. Januar 2019 - 14:44 Uhr
Es ist 18.59 Uhr, als Pünktchen das Restaurant betritt. Anton ist noch nicht da. Pünktchen setzt sich. Sie beantwortet zwei SMS, checkt Mails. Dann Facebook. Dann die Wetter-App. Warten auf Anton. Wie immer. Pünktchen nippt am Drink, schaut sich verstohlen um. Sie fühlt sich wie eine einsame Lady, von der Welt vergessen, allein im Restaurant.
19.10 Uhr. Pünktchens Handy vibriert: «Sry erst jetzt aus dem Haus geschafft». Anton hat keine Zeit für ein ganzes «Sorry» und erst recht nicht für Kommas und Punkte. Er ist busy, der Job, die Bar, die er mit Kumpels betreibt, das Skateboarden, die Tochter am Wochenende. Er macht alles gleichzeitig. Telefoniert, wenn er auf dem Rennvelo fährt, liest Mails am Laptop, während er Bier zapft. Und er kommt immer zu spät .
Um 19.22 Uhr geht die Tür mit Schwung auf. «Boah, bin ich gerast, sorry für die Verspätung!», feixt Anton und umarmt Pünktchen. «Easy, kein Problem», murmelt sie.
Die Welt besteht aus Pünktchens und Antons. Aus den Pünktlichen, die sich die Beine in den Bauch stehen und die Nase abfrieren. Und aus den Unpünktlichen, denen die Busse immer vor der Nase abfahren
und denen im letzten Moment einfällt, dass sie die Wäsche aus der Maschine holen müssen, bevor sie aus dem Haus gehen.
Sie stehlen einem die Zeit, weil sie ihre eigene nicht vergeuden wollen.
Ich bin ein Pünktchen, und die Antons dieser Welt nerven mich gewaltig. Sie stehlen mir meine Zeit , weil sie ihre eigene nicht vergeuden wollen. Lieber vergammelt meine Wäsche in der Trommel, als dass ich meine Freunde hocken lasse. Ich weiss, es ist bünzlischweizerisch und tüpflischiisserisch, aber wenn ich sage, ich bin um 19 Uhr null-null da, dann bin ich das.
Die Schweiz, das war einmal das Paradies für Leute wie mich. Um Punkt 12 gabs Zmittag, und wenn der Zug um 7.23 Uhr ankommen sollte, dann kam er um 7.23 Uhr an. Die Pünktlichkeit, sie gehörte zur Schweiz wie die SBB-Uhr, deren Sekundenzeiger mit Pathos-Pause von 59 auf 0 springt.
Doch die Anzeichen mehren sich, dass die Schweizer Tugend keine mehr ist. Über die SBB hiess es unlängst in einem SRF-Beitrag: Die Unpünktlichkeit habe «massiv zugenommen». Über 80 Prozent der Intercity-Züge sind zu spät – das offenbart die unabhängige Website puenktlichkeit.ch, die jeden verspäteten Zug registriert. Dass drei Minuten bereits als Verspätung gelten, zeigt, wie hoch der Anspruch ist.
Auch ihre Rechnungen zahlen Schweizer keineswegs pünktlich . Sie liegen sogar weit hinter dem Durchschnitt, zeigt der «European Payment Report 2018». Private begleichen ihre Rechnungen im Schnitt drei Tage zu spät, nach 30 Tagen. Der europäische Schnitt liegt bei 22 Tagen. Die öffentliche Hand zahlt sogar erst nach 44 Tagen, verglichen mit 40 Tagen in Europa. Ähnlich sieht es bei den Steuern aus: Fast jeder zweite Schweizer reicht die Steuererklärung nicht fristgerecht ein. Und: Je höher das Einkommen, desto unpünktlicher.
Auch als Kunden kommen die Schweizer oft zu spät. Mitarbeiter von Zahnarztpraxen, Coiffeursalons und Restaurants beklagen sich in einem Beitrag der Gratiszeitung «20 Minuten» über verspätete Kunden. Die Online-Umfrage zum Thema lief heiss, die Kommentarspalte musste gar deaktiviert werden, da die Redaktion mit dem Sichten nicht mehr nachkam. «Respektlos», «kein Anstand», «unhöflich», wurde da über die zahlreichen Antons in der Schweiz geschimpft. Das Thema brennt offenbar unter den Nägeln.
Pünktlichkeit bildet zusammen mit Fleiss und Sparsamkeit die heilige Dreifaltigkeit der bürgerlichen Tugenden – aber wer will heute noch ein Spiessbürger sein? Wer jung ist und cool , busy und easy-going, der kommt zu spät. Nur Langweiler, die nichts Besseres zu tun haben, warten däumchendrehend, bis sie endlich und pünktlich aus dem Haus können.
Ich habe tatsächlich nichts Besseres zu tun, wenn ich mit Anton abmache. Denn Freunde zu treffen , ist für mich das Beste. Anton hingegen scheint alles Mögliche wichtiger zu finden als die Verabredung mit mir. Ich bin beleidigt. Unsere Treffen beginnen immer mit schlechter Laune meinerseits. Seine «Sorrys» helfen da nichts. Warum gibt es Leute, denen anscheinend systematisch immer etwas dazwischenkommt?
Die notorisch Unpünktlichen haben tatsächlich ein schlechteres prospektives Zeitgedächtnis, besagt eine US-Studie. Sie können schlechter abschätzen, wie lange sie für eine Aufgabe brauchen. Ausserdem weichen sie häufiger von ihrem ursprünglichen Plan ab.
Für die Unpünktlichen dauert eine Minute im Schnitt 77 Sekunden.
Die Unpünktlichen seien optimistischer als die Pünktlichen, so der Befund einer anderen Untersuchung. Sie denken, dass sie mehr Dinge in kürzerer Zeit schaffen. Ausserdem seien sie oft Multitasker , die jedoch nicht selten den Überblick über ihre Tätigkeiten verlieren.
Noch mehr Forschungsergebnisse: Während der sogenannte Persönlichkeitstyp A – ehrgeizig, leistungsorientiert, ungeduldig – eher pünktlich sei, würden Typ-B-Menschen oft zu spät kommen. Sie seien gelassener und hätten ein anderes Zeitempfinden. Wenn man ihnen sagt, sie sollten nach Gefühl die Dauer einer Minute angeben, tippen sie im Schnitt auf 77 Sekunden. A-Typen kommen auf 58 Sekunden. Wenn man das hochrechnet, liegen B-Typen nach einer Stunde bereits 17 Minuten daneben mit ihrer Zeiteinschätzung.
«Es gibt Uhrzeit-orientierte und Eigenzeit-orientierte Menschen», sagt der Zeitforscher und Psychologe Marc Wittmann. Erstere haben stets die Uhrzeit im Bewusstsein, Letztere fokussieren auf das Ereignis, verlieren sich in den Tätigkeiten, leben mehr im Moment. Eine Tätigkeit dauert dann eben so lange, wie sie dauert.
Mein Anton ist also gelassen, optimistisch, multitasking und lebt im Jetzt. Wer kann da schon dagegen sein? Nur doof, dass der andere warten muss. Wer pünktlich kommt, den bestraft das Leben.
Es gibt in meinem Umfeld mehrere Anton-Variationen. Bei Anton selbst kann man sich nur auf die Unzuverlässigkeit verlassen. Anders bei Antonia: Sie kommt immer exakt 5 Minuten zu spät. Ein ziemlich ausgefeiltes Zeitmanagement, immer genau gleich viele Minuten daneben zu liegen.
Und dann wäre da noch Antonietta. Sie kommt nicht nur ein paar Minuten zu spät, sondern mindestens 20. Die Blicke sind ihr gewiss, wenn sie ins Sitzungszimmer platzt, mit knallrotem Lippenstift und den High Heels, die man schon von weitem gehört hat. Antonietta mag den grossen Auftritt.
Über Persönlichkeiten wie Antonia sagt der deutsche Psychologe und Coach Roland Kopp-Wichmann: «Das sind Leute, die ein Autonomieproblem haben.» Sie fühlen sich durch eine Vereinbarung in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt und rebellieren mit Zuspätkommen dagegen. Unbewusst. Sie kommen wie ferngesteuert zu spät – egal, wie sehr sie sich vornehmen, nächstes Mal pünktlich zu sein.
Oft seien das Menschen, die in ihrer Kindheit streng erzogen wurden und unter den starren Regeln gelitten hätten. Es seien hartnäckige Verhaltensmuster, die man fast nicht verändern könne, weil die Sabotageakte nicht bewusst seien, so der Psychologe.
Anders Personen wie Antonietta, die mindestens 20 Minuten zu spät kommen. «Sie haben ein Statusproblem », sagt Kopp-Wichmann. Ihre Unpünktlichkeit habe narzisstische Gründe. «Sie bleiben garantiert nie unbeachtet, jeder nimmt sie wahr, wenn sie kommen.» Auffallen um jeden Preis, auch wenn sich alle nerven. Negative PR ist auch PR.
Pünktchen sitzt vor dem Büro ihres Chefs und wartet. Monsieur Antoine sitzt derweil drinnen und wartet ebenfalls. Zehn Minuten später öffnet er Pünktchen die Tür. «Ich hatte noch eine wichtige Telefonkonferenz», seufzt er gestresst.
Nur wer es sich leisten kann, darf den anderen warten lassen.
«Unpünktlichkeit ist oft eine Machtdemonstration», sagt Psychologe Kopp-Wichmann dazu. Man zeige damit, dass man wichtig sei, viel beschäftigt. Am längeren Hebel sitze. Nur wer es sich leisten kann, darf den anderen warten lassen. «Unpünktlichkeit ist eine Art passiver Aggression .» Man signalisiert: Du bist mir nicht so wichtig. Und man lässt den anderen spüren: Du bist abhängig von mir. Der Wartende ist ohnmächtig.
In unserer Kultur ist Warten ein Affront und eine Plage. Anders anderswo. Die senegalesische Bäuerin begibt sich morgens zur Bushaltestelle, der Bus wird irgendwann im Verlauf des Vormittags kommen, so Gott will. «In unserer industrialisierten und automatisierten Welt sind hingegen alle Kreisläufe eng miteinander verzahnt», sagt Zeitforscher Marc Wittmann, «und oft sekundengenau getaktet.»
Wenn das System irgendwo ins Stocken gerät, hängt die ganze Kette mit drin. Das verursacht Kosten. Eine Studie schätzt, dass allein die Unpünktlichkeit von Konzernchefs die amerikanische Wirtschaft jährlich 90 Milliarden Dollar kostet. Zeit ist Geld. «Unser wirtschaftlicher Erfolg hängt essenziell von Pünktlichkeit ab», sagt Wittmann.
Ich bin auch unpünktlich, nur merkt das niemand.
Es ist 16.00 Uhr, ich stehe an der Tramhaltestelle und lese seit zehn Minuten lustlos die «20 Minuten». Es regnet. Antonia ist noch nicht da. In den letzten Tagen habe ich viel über Pünktlichkeit recherchiert und mit den Antons und Antonias in meinem Umfeld gesprochen. Auch über mich selbst habe ich nachgedacht. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich bin auch kein Pünktchen. Ich bin nämlich immer unpünktlich zu früh. Nur merkt das niemand.
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