«To-do-Listen sind gefährlich»
Geschäftigkeit sei verkappte Faulheit, ist Arbeitspsychologe Tony Crabbe überzeugt. Wir sollen nicht immer noch mehr Dinge tun, sondern die wichtigen.
Veröffentlicht am 24. Oktober 2018 - 14:19 Uhr,
aktualisiert am 25. Oktober 2018 - 13:24 Uhr
Beobachter: Das Handy sei vielen bereits wichtiger als Sex, schreiben Sie in Ihrem Buch «BusyBusy». Wie kommt das?
Tony Crabbe: Die meisten werden Sex immer noch als wichtiger einstufen. Eine Studie der Uni Köln hat aber gezeigt: Es fällt uns leichter, der Versuchung zu widerstehen, Sex zu haben, als derjenigen, Nachrichten auf unseren elektronischen Geräten zu checken. Wir erliegen immer wieder der Verlockung, unser Hirn mit einem Blick aufs Handy zu stimulieren.
Sind wir also alle süchtig?
Bei jedem Check des Smartphones wird der kokainähnliche Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Viele heutige Technologien sind so ausgelegt, dass sie süchtig machen – der Algorithmus von Facebook
steht deshalb seit längerem in der Kritik. Aber wir brauchen nicht zwingend moderne Technologien, um uns in Geschäftigkeit zu verlieren. Viele kleine, stumpfsinnige Dinge zu tun macht allein schon süchtig. In einem Versuch haben die Leute eher Elektroschocks gewählt, als sich für 15 Minuten ohne Stimulation in einen leeren Raum zu setzen.
Das klingt irre.
Wenn wir die Wahl haben, gar nichts oder etwas Einfaches zu tun, bevorzugen wir das Einfache. Und wenn es um eine einfache oder eine anstrengende Tätigkeit geht, wählen wir ebenfalls die einfache. Das liegt daran, dass rationale Erwägungen sehr energieaufwendig sind. Unser Gehirn versucht, diese zu vermeiden. Die Dopamin-Kicks, die wir durch all die Geschäftigkeit bekommen, gaukeln uns vor, dass wir wichtige Dinge erledigen. Aber all die E-Mails, Nachrichten und Meetings
sind wirklich nicht das Beste, was wir mit unserer Zeit anfangen können.
Viele haben kaum die Wahl – die Vorgesetzten erwarten, dass man E-Mails beantwortet und an Meetings teilnimmt.
Wir haben eine gewisse Freude daran, der Welt und uns selbst zu erzählen, dass wir keine Wahl haben. In der Psychologie sprechen wir von erlernter Hilflosigkeit. Wir sagen uns, dass wir Dinge tun müssen, und verbrauchen unsere Energie dann dafür, mit dem Vorhandenen zurechtzukommen, anstatt etwas zu ändern.
Aber man kann als Einzelner die Berufswelt nicht verändern. Es gibt immer mehr und mehr Nachrichten.
Das ist richtig, und wir müssen uns deshalb eingestehen, dass wir nicht alles erledigen können, manches muss liegenbleiben
. Kein Mensch hat absolute Kontrolle über sein Leben. Aber schauen Sie sich an, wo Sie die Wahl haben, und ändern Sie dort etwas.
Sie behaupten sogar, dass in Wirklichkeit faul sei, wer seine E-Mails abarbeite.
Wir müssen alle E-Mails schreiben – ich auch. Aber die Frage ist: Womit beginne ich den Tag, was treibt mich an? Für viele ist das Erste, was sie machen, Kaffee zu holen und das E-Mail-Postfach zu öffnen – das setzt die Agenda für den Tag. Anstatt Zeitpunkte festzulegen, an denen man seine E-Mails checkt, zweimal am Tag, einmal die Stunde, jede halbe Stunde von mir aus. So schaufle ich mir Zeit frei, in der ich mich auf eine Aufgabe konzentriere. Wir schaffen 40 Prozent mehr, wenn wir auf etwas fokussieren
.
Statt Zeitmanagement bräuchten wir Aufmerksamkeitsmanagement, schreiben Sie. Was meinen Sie damit?
Aufmerksamkeit ist die Kernressource, nicht Zeit. Das Gegenteil von «Busyness»
ist nicht relaxen am Strand, sondern aufmerksam sein für Aufgaben, Menschen und Gespräche, auf die es am meisten ankommt. Wir müssen davon wegkommen, möglichst vieles in möglichst kurzer Zeit schaffen zu wollen. Busy sein ist eine Art des Aufschiebens von schwierigen Dingen.
Was ist falsch daran, wenn ich am Abend stolz darauf bin, meine Pendenzenliste abgearbeitet zu haben?
To-do-Listen sind gefährlich. Wir schreiben per definitionem Dinge darauf, die wir sonst vergässen, die also nicht wirklich wichtig sind. Die grossen Themen hingegen fehlen. So werden wir verführt, uns nur um Mikroaufgaben zu kümmern. To-do-Listen leisten dann einen Beitrag zu einem erfüllten Leben
, wenn wir darauf Dinge festhalten, die wir aus dem Kopf bekommen wollen, um sie zu einem dafür reservierten Zeitpunkt abzuarbeiten, zum Beispiel am Nachmittag.
Wenn wir ohnehin zu müde sind, Grosses zu leisten?
Fokussierte Tätigkeiten, wie etwa einen Text zu überarbeiten, sind anstrengend fürs Gehirn. Morgens, wenn wir ausgeschlafen sind, sind wir darin in der Regel besser als am Nachmittag. Wir können möglichst viele Meetings in den Nachmittag verschieben und morgens in eine ruhige Umgebung gehen, in der wir uns gut konzentrieren können.
Wie können wir uns dort auf die wichtigen Dinge konzentrieren?
Ein guter Anfang ist, sich klarzumachen, was wirklich wichtig ist, was meine grossen Ziele sind. Wenn man hungrig in einen Supermarkt geht, trifft man keine guten Entscheidungen. Anders gesagt: Wenn wir uns ohne Strategie der Versuchung aussetzen, machen wir meistens das, was uns unmittelbar befriedigt, also etwa To-do-Listen und E-Mails abzuarbeiten. Eine Möglichkeit, um gegenzusteuern, ist, am Tag oder in der Woche vorher oder am Anfang des Jahres festzulegen, was man anpacken will. Man sollte die Zeit dafür blockieren
, etwa im Kalender oder indem man das entsprechende Dokument beim Nachhausegehen offen lässt.
Wie wichtig sind Pausen?
Das Gehirn braucht Erholungsphasen
. Stellen Sie sicher, dass es ein paar Stunden des Tages gibt, an denen sie komplett von Kommunikationsgeräten abgeschnitten sind. Wirklich präsent zu sein für die Menschen um Sie herum ist der beste Weg, sich zu erholen.
Wie schaffen wir es, in der Familie weniger gestresst zu sein?
Gestern habe ich mit einer Frau gesprochen, die in einer leitenden Position bei einem grossen Unternehmen arbeitet – genau wie ihr Mann. Sie haben vier Kinder, um die vorrangig sie sich kümmert, weil ihr Mann ständig auf Geschäftsreise ist. Wenn sie von der Arbeit kommt, ist sie komplett im Multitasking-Modus im Haushalt und kann ihren Kindern nicht gerecht werden
. Ich habe ihr geraten, dass sie am Abend Inseln finden solle, wo sie sich das Multitasking verbietet und mit ganzer Aufmerksamkeit bei ihren Kindern ist. Das ist das Wichtigste, egal, ob es dann an anderer Stelle etwas chaotisch wird. Mein Rat ist immer: Fangen Sie an, Kontrolle zu übernehmen, finden Sie Zeitfenster, in denen Sie von der Reaktivität wegkommen.
zur Person
- Buchtipp: Tony Crabbe: «BusyBusy. Stresse dich nicht, lebe!»; Campus, 2017, 320 Seiten, CHF 31.90