«Ich bin so seltsam mutlos»
Trotz gesundheitlicher Stabilität nach einer Bypassoperation erfasst eine seltsame Mutlosigkeit einen Patienten. Gibt es da Zusammenhänge?
aktualisiert am 14. November 2018 - 14:36 Uhr
Leserfrage: «Vor einem Jahr hatte ich einen Herzinfarkt und musste notfallmässig ins Spital. Ich hatte eine Bypassoperation. Gesundheitlich geht es mir wieder gut, aber etwas stimmt mit mir seelisch nicht mehr . Mich erfasst immer wieder eine seltsame Mutlosigkeit, und ich wache nachts auf und grüble herum. Habe ich eine postoperative Depression?»
Die Symptome, die Sie beschreiben, sind eine klare Aufforderung, sich nochmals mit dem tiefen krankheitsbedingten Einschnitt in Ihrem Leben zu befassen. Unser ehemaliger Bundesrat Merz hat es zwar vorgemacht: Auch nach Herzstillstand und einer fünffachen Bypassoperation kann man weiterarbeiten, als ob nichts gewesen wäre.
Das ist aber eher die Ausnahme. In der Regel hinterlässt ein solches Erlebnis Spuren und verlangt nach einer Verarbeitung. Dass der Eingriff heute eine Routineoperation ist, verleitet zur Annahme, es sei gar nicht viel passiert. Halt einfach eine dringend notwendige Reparatur wie beim Auto – und danach kann man wieder Gas geben.
Mindestens zwei einschneidende Dinge sind aber geschehen. Erstens musste der Betroffene erfahren, dass sein Körper versagt hat. Jahrzehntelang konnte man sich auf seinen Körper verlassen. Natürlich tat es mal irgendwo weh, war man verletzt oder krank. Aber man wusste, dass es vorbeigeht, man erwartete, aus eigener Kraft wieder gesund zu werden.
Die Erfahrung, dass man gestorben wäre, wenn einem nicht notfallmässig geholfen worden wäre, verunsichert auf ganz neue Weise . Wenn dieses Organ versagt hat, könnten auch andere Organe versagen. Es wird den Betroffenen plötzlich deutlich, was sie theoretisch schon immer wussten: Eines Tages wird mich dieser Körper im Stich lassen, und ich werde sterben.
Das ist die erste tiefgreifende Erfahrung. Die zweite ist diejenige der Operation. Man erinnert sich zwar an nichts, weil man narkotisiert war. Aber der Körper wurde natürlich massiv verletzt. Um Zugang zum Herzen zu bekommen, musste zum Beispiel das Brustbein aufgesägt werden, und das war nur der Anfang.
«Die seelischen Folgen von Operationen sind bisher nur ungenügend wissenschaftlich untersucht.»
Koni Rohner, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Es ist anzunehmen, dass der Körper nicht «weiss», dass er nur so heftig verletzt wird, um gerettet zu werden, sondern dass der Eingriff als massives Trauma irgendwo gespeichert wird. In den Zellen? Im Unbewussten? Man weiss es nicht.
Offenbar sind die seelischen Folgen von Operationen wissenschaftlich bisher nicht genügend untersucht worden. Einzelne operierte Herzinfarktpatienten berichten aber von Schlafstörungen, von unerklärlichen Ängsten, von Schüben seelischer Kraftlosigkeit, von zeitweiligem Lebensüberdruss oder gar einer seltsamen Todessehnsucht. Letztere könnte mit Nahtoderfahrungen zusammenhängen, die sich manchmal ergeben, wenn es beim Infarkt zu einem Herzstillstand kommt.
Die anderen Symptome einer Depression nach einer Operation gleichen jenen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese ist wissenschaftlich gut untersucht. Es handelt sich um ein Bündel von Symptomen, die auftreten, wenn jemand einen schweren Unfall erlitten hat, eine Naturkatastrophe erleben musste oder zum Gewaltopfer wurde.
Oft werden das Erlebnis und die dazugehörigen Gefühle verdrängt, gewissermassen eingefroren, um das seelische Weiterfunktionieren zu gewährleisten. Durch die Hintertür kommen dann aber doch Erinnerungen, Depressionen und Ängste wieder ins Bewusstsein und bilden eben die posttraumatische Belastungsstörung . In der Therapie wird dem Leidenden geholfen, sich dem traumatischen Erlebnis wieder anzunähern und die dazugehörigen Gefühle nach und nach zu integrieren.
Ein solches Vorgehen ist bei Menschen nach Operationen nicht möglich, weil sie wegen der Narkose keine Erinnerung an das Trauma haben. Trotzdem kann nach einem Eingriff eine therapeutische Begleitung angezeigt sein. Denn gerade nach einem Herzinfarkt, bei dem auch der Lebensstil eine Mitursache darstellt, geht es ja auch darum, sein bisheriges Leben anzuschauen und zu überlegen, was man ändern muss.
3 Kommentare
Euer Artikel klingt, als wäre eine postoperative Depression nur nach einer Herz-OP möglich. Ich hatte zwei Hüft-TEP-OPs innerhalb von drei Monaten und eine Woche nach der zweiten auch noch eine Luxation. Die Depression holte mich etwa 6 Wochen später ein. Und ich war in meinen über sechzig Jahren noch nie vorher depressiv.
Liebe Blaumeise, danke für Deinen Kommentar. Im SE ( Somatic Experiencing) der Traumatherapie nach Peter A. Levine können Traumas neu verhandelt und aufgelöst werden. Auch wenn man sich nicht aktiv daran erinnert, sind die Traumata im Körpergedächnis/Nervensystem gespeichert und der Körper erinnert sich daran. In dieser Therapieform wird darum unser Nervensystem miteingebunden. SE ist evidenzbasiert, Studien sind in Bearbeitung.