Was tun, wenn alles einfach nur noch besorgniserregend ist?
Zuerst Corona, dann der Ukrainekrieg, ein Hitzesommer und nun eine mögliche Stromknappheit: Kein Monat vergeht ohne Krise. Ist denn heute wirklich alles schlechter als früher?
Veröffentlicht am 22. September 2022 - 12:49 Uhr
Frage einer Leserin: «Nun schmilzt sogar der Schnee hoch oben in den Alpen. Mir macht alles nur noch Angst. Was kann ich dagegen tun?»
Früher bezeichneten Sie sich immer als Optimistin – mit dem scherzhaften Zusatz, dass Sie nicht Optimistin, sondern Realistin seien. Denn wenn man wissenschaftliche Daten untersuche, die sich mit Armut oder Gesundheit befassen, sehe man, dass sich vieles in eine positive Richtung entwickle, sagten Sie jeweils.
Doch dann hat die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten Ihr Grundvertrauen erschüttert. Sie hatten Mühe, diese für Sie unerwartete Wendung positiv zu deuten. Wenig später kam Corona. Dann folgte der Ukrainekrieg. Und zuletzt nun die Hitzewelle. Jedes Mal, wenn Sie auf dem Balkon sitzen, stutzen Sie. Ihre geliebten Alpen sind plötzlich nicht mehr strahlend weiss, sondern mattgrau. Die Hitze hat ihnen und Ihnen zugesetzt.
Unser Alarmsystem
Wie können Sie mit dieser Verunsicherung umgehen? Nun, Verunsicherung ist eigentlich etwas Positives. Sie ist Teil unseres Alarmsystems. Bewegen wir uns vorsichtig auf einem gefrorenen Weiher, dann sollte uns ein feines, knisterndes Geräusch verunsichern. Wir sollten stehen bleiben und unsere nächsten Schritte gut überlegen.
Das Beispiel mit dem gefrorenen Weiher hat etwas schön Einfaches: Es zeigt, dass es hier um zwei Fragen geht. Um die Frage, wie dick die Eisschicht ist, und um die Frage, warum wir sie überhaupt betreten haben. Die Mütze, die der Wind in die Mitte des zugefrorenen Weihers geweht hat, ist wohl das Risiko nicht wert, werden Sie denken.
«Uns zu fragen, was wir mit kleinen Handlungen tun können, ist gut für die Psyche.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Dagegen sind die Beispiele, die Sie in Ihrem Schreiben genannt haben, viel komplexer. Allein die Zeitdauer ist eine völlig andere. Die Geschichte auf dem Weiher dauert wohl keine Minute. Die Corona-Geschichte aber begann vor zweieinhalb Jahren. Sie haben wohl in dieser Zeit zur Pandemie mindestens 500 Einschätzungen gemacht, jede etwas anders als die andere, abhängig eben von der Zeitachse.
Ein weiteres Problem ist die Informationsflut . Wir werden von überallher mit Wissen und vor allem mit Meinungen zu den oben aufgeführten Themen beschallt. Zum Teil objektiv und abwägend, oft aber auch laut und polarisierend. Unsere Einschätzungen sind so weniger verlässlich geworden, uns sollte also immer bewusst sein, dass es sich hier um Momentaufnahmen handelt.
Was kann ich Ihnen nun konkret raten?
Ich sehe drei Punkte: die Richtung, die der Kompass weist, kleine Schritte und etwas grössere.
Wenn Sie sich als Optimistin bezeichnen, ist damit die Kompassrichtung gemeint. Wer sich auf den Jakobsweg macht , hat ein Ziel: Santiago de Compostela. Und – von der Schweiz aus – eine Grundrichtung: Westen. Unterwegs geht es vielleicht auch mal nach Norden, Süden oder gar Osten, Zielrichtung aber bleibt der Westen.
Sie haben die Grundüberzeugung, dass die Menschheit ihre Probleme löst. Auch wenn es manchmal anders wirkt oder Lösungen erst erfolgen, wenn es fünf vor zwölf ist, und die Entwicklung immer auch von Rückschritten geprägt ist. Sich seiner Kompassrichtung beziehungsweise seiner Werte bewusst zu sein, hilft, die Irrungen und Stürme des Lebens zu meistern.
Kleine Schritte sind wichtig für das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Einfache, konkrete Handlungen sind etwas sehr Schweizerisches. Wir sind führend im Recyceln von PET-Flaschen. Untermauert wird das Konzept der kleinen Schritte durch die Tatsache, dass wir persönlich nur rund vier Quadratmeter Boden oder Raum rund um uns beeinflussen können. Uns zu fragen, was wir mit kleinen Handlungen tun können für die Natur, gegen Kriege oder die Polarisierung , und diese kleinen Handlungen dann auch umzusetzen, ist wichtig für die Sache, aber auch gut für unsere Psyche.
Spenden und politisieren
Wichtig sind aber auch grössere Schritte. Ich habe einmal einem Freund aus Kenia stolz unser PET-Recyclingsystem vorgeführt. Sein Kommentar: «Niemand hat so viel Geld wie ihr, ihr seid tausendmal reicher als wir Kenianer, und ihr entscheidet euch, Plastikflaschen zu sammeln, um die Natur zu retten?» Ich war in diesem Moment etwas verlegen.
Doch grössere Schritte sind ebenfalls wichtig, und für uns kann es wirklich etwas bedeuten, Geld zu spenden für die Forschung und die Umsetzung von Ideen, die unsere Werte stützen. Ebenfalls wichtig sind die politischen Strukturen, die unser Land auszeichnen. Sich im Lokalen oder auf höherer Ebene politisch zu betätigen und auch das Gespräch zu Politikerinnen und Politikern zu suchen, ist ebenfalls ein guter Weg, Grösseres zu verändern.
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