«Nur wenige sind zum Einsiedler geboren»
Wer wird einsam? Was macht Einsamkeit mit einem? Wie entrinnt man ihr? Psychiater Thomas Ihde antwortet.
Veröffentlicht am 8. November 2018 - 18:43 Uhr,
aktualisiert am 8. November 2018 - 18:38 Uhr
Beobachter: Brauchen alle Menschen soziale Kontakte?
Thomas Ihde: Grundsätzlich haben die meisten ein Bedürfnis nach Beziehung und Gesellschaft, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Es gibt aber nur wenige, die zum Einsiedler geboren sind.
Frauen fühlen sich häufiger einsam. Warum?
Zum Teil weil Frauen ein höheres Beziehungsbedürfnis haben und deshalb verletzlicher sind, wenn sie keine oder weniger Beziehungen haben. Zugleich ist Emotionales bei Männern immer noch stark tabuisiert. Die Suizidrate
ist bei Männern höher, oft ist der Auslöser der Verlust einer wichtigen Beziehung. Da geht es um
Kränkung, aber auch um drohende Einsamkeit. Dabei ist es eigentlich schwer zu erklären, weshalb es so tabubehaftet ist, über Einsamkeit zu sprechen. Einsamkeit ist etwas Normales. Wir alle haben schon einsame Phasen erlebt. Manchmal sind wir sehr zufrieden damit, manchmal tut es richtig weh – so sind Gefühle nun einmal.
Bei den 15- bis 34-Jährigen sind die Einsamkeitsgefühle am stärksten. Wieso?
Junge sind in einer Lebensphase, in der Freunde sehr wichtig sind. Es sind oft jene, die sie für den Rest ihres Lebens behalten. Gleichzeitig sind sie auf Partnersuche. Enttäuschungen in beiden Bereichen schmerzen. Eine Abweisung in der Bezugsgruppe verunsichert sie enorm
, und der Verlust der ersten grossen Liebe kann ein prägendes Erlebnis sein. Ältere Menschen hingegen können Einsamkeit besser einordnen, sie haben eine weitere Perspektive. Zugleich ist bei ihnen Einsamkeit oft mit Trauer und Verlust verbunden.
Trauer gehört zum Leben, man kann nach einer gewissen Zeit damit umgehen. Älteren Einsamen fehlt es aber oft an sozialer Stimulation, die enorm wichtig für sie wäre.
Warum sind manche Leute kontaktscheu?
Soziale Ängste können Teil der Persönlichkeitsstruktur sein. Es gibt Leute, die nie ein gesundes Selbstvertrauen
entwickeln, sondern immer das Gefühl haben, anderen nicht zu genügen. Sie finden es deshalb schwierig, Kontakte zu knüpfen. Andere haben dieses Selbstvertrauen aufgrund prägender negativer Erlebnisse verloren, etwa weil sie als Kind
von Klassenkameraden geplagt wurden.
Wie vermeiden es Betroffene, in die Einsamkeitsfalle zu laufen?
Ängste nehmen zu, je mehr Raum man ihnen gibt. Es ist also wichtig, trotz der Ängstlichkeit immer wieder auf andere zuzugehen – und die Erfahrung zu machen, dass diese oft positiver reagieren, als man sich das vorgestellt hat. Dabei ist es einfacher, andere kennenzulernen, wenn man Zeit hat – oder in Situationen, in denen eine Gemeinsamkeit besteht, etwa in einem Kurs. In einer Bar hingegen braucht es vor allem Witz und Schlagfertigkeit. Das ist sehr anspruchsvoll, wenn jemand scheu ist
.
Für viele bedeutet schon Smalltalk an einem Apéro Stress. Was tun?
Sich so gut wie möglich auf solche Situationen vorbereiten. Also Fragen ausdenken, die man anderen stellen könnte, und sich überlegen, wie man sie beantworten würde. Der grösste Stolperstein ist in solchen Situationen, dass man eine kritische Beobachterposition einnimmt. Viel zu häufig überlegen wir uns, was wohl das Gegenüber nun gerade von unserer Frage hält und was es über uns denkt. Das macht uns nur noch ängstlicher, und wir verlieren jegliche Spontaneität.
Ab wann wird normale Schüchternheit zu einer psychischen Störung?
Menschen mit einer sozialen Phobie
haben einen sehr hohen Leidensdruck. Die Ängste zeigen sich nicht einmal pro Woche, sondern täglich über mehrere Stunden hinweg und nehmen sehr viel Raum ein. Betroffene verzichten auf Freundschaften, eine Beziehung oder auch auf eine Beförderung.
«Schmerz und Vereinsamung erreichen heute Werte, die für die Gesellschaft ungesund sind.»
Thomas Ihde
Welche seelischen Verletzungen richtet es an, wenn man sich einsam und ausgegrenzt fühlt?
Wenn ein Kind ständig erlebt, dass es für seine Bezugspersonen nicht wichtig ist, läuft es Gefahr, Wunden und Narben zu entwickeln, die es auch in Zukunft belasten werden. Gerade diese frühe Prägung gilt als möglicher Risikofaktor für spätere Depressionen oder Ängste. Eine andere Gefahr ist, dass ein solches Kind später in Beziehungen sehr vorsichtig ist, sich rasch zurückzieht oder es allen immer recht machen will. Es gibt aber auch Menschen, die aufgrund solcher Erfahrungen gerade umgekehrt reagieren. Sie schliessen Freundschaften zu schnell, schützen sich aber nicht und geraten so an Leute, die sie ausnutzen.
Was hilft gegen das Gefühl, ungeliebt zu sein?
Zu versuchen, sich so zu akzeptieren, wie man ist, und sich selber so auch gernzuhaben. Diese Selbstakzeptanz ist unser wichtigster Fels in der Brandung, gerade wenn wir vom Umfeld abgelehnt werden. Ohne ihn klammern wir uns zu sehr an andere. Oder wir biegen uns wie Schilf im Wind, weil wir zu abhängig von anderen sind. Diesen Fels in sich
drin zu entdecken kann aber schwierig sein. Vielleicht gibt es ihn im engeren Sinn nicht, vielleicht ist es bloss eine Rundhecke oder ein Bambusgerüst, das fragil wirkt, aber erstaunlicherweise jedem Taifun trotzt. Auf dieser Suche kann eine Psychotherapie helfen.
Wer arm oder krank ist, hat es noch schwerer.
Ja, das kann die Situation verschärfen. Denn eigentlich würden wir doch erwarten, dass man gerade in schwierigen Zeiten auf uns zukommt. Die Realität ist leider eine andere. Nach einem Stellenverlust oder einer Krebsdiagnose
wird es plötzlich still, gewisse Freunde melden sich nicht mehr. Sie wissen nicht, wie sie auf uns eingehen sollen, haben Angst, das Falsche zu sagen. Diese Art von Einsamkeit kann noch verletzender sein.
Einsamkeit breitet sich rasch aus. Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen?
Da sind wir vor allem als Gesellschaft gefordert. Eine gesunde Gesellschaft lebt von der Vielfalt. Sie ist inklusiv, schützt und stützt somit eben gerade auch diejenigen, die nicht dem Durchschnitt entsprechen. Gefühle von Einsamkeit sind normal, aber der damit verbundene Schmerz und das Ausmass der Vereinsamung haben Werte erreicht, die für uns als Gesellschaft ungesund sind. Es sind die Kehrseiten unserer Leistungsgesellschaft und der sozialen Wettbewerbskultur
. Gegensteuer können wir alle geben, zum Beispiel indem wir unsere verwitwete Nachbarin «einfach so» mal zum Kaffee einladen. Oder indem wir generell weniger urteilen und bewerten. Und wir sollten uns dafür einsetzen, dass unsere Sozialversicherungsnetze auch wirklich das sind, was der Name verspricht.
Zur Person
Thomas Ihde ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die Interessen von psychisch Erkrankten einsetzt.
Einsamkeit: Wege aus der Isolation
Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Problem. Besonders arme und kranke Menschen laufen Gefahr, sozial isoliert zu werden. Die Stiftung SOS Beobachter lindert ihre Not. Zum Artikel