«Welchen Sinn hat mein Leben?»
Eigentlich läuft im Leben alles nach Plan. Doch irgendwas fehlt – aber was? Laut der Maslowschen Bedürfnispyramide sehnt sich der Mensch nach Spiritualität.
aktualisiert am 13. Dezember 2018 - 22:47 Uhr
Frage von Esther G.: «Obwohl mein Leben finanziell und in Sachen Beziehungen gut gelungen ist, fehlt mir etwas. Vielleicht wäre es gut, fromm zu sein, aber ich kann mit der Kirche nicht viel anfangen.»
Abraham Maslow, ein Psychologe aus den USA, fragte sich, was Menschen brauchen, um ein erfülltes Leben zu führen. Als Resultat hat er eine Pyramide der menschlichen Bedürfnisse gefunden. Die Basis bilden biologische Bedürfnisse wie Luft zum Atmen, Nahrung, Wasser und Sex . Darüber liegt das Bedürfnis nach Sicherheit und Freiheit von Angst.
Wir haben zudem ein starkes Bedürfnis nach Bindung : Wir möchten lieben und geliebt werden. Weiter gibt es geistige, intellektuelle Bedürfnisse und auch ästhetische: Schönheit bereichert unser Leben. An der Spitze der Pyramide platzierte Maslow den Begriff Transzendenz. Er hatte erkannt, dass der Mensch auch ein Bedürfnis nach Spiritualität hat.
Was ist damit gemeint? Spiritualität bedeutet, zu spüren, dass es im Leben noch etwas Grösseres gibt als den Alltag und das eigene Wohl. Das Wort Transzendenz kommt vom lateinischen Begriff für «über etwas hinausgehen». Spiritualität soll einem also ermöglichen, über die eigene Nasenspitze hinauszusehen, sich als Teil eines grösseren Ganzen zu erleben.
Ein Mangel an solchen Erfahrungen ist es, was Ihnen das Gefühl vermittelt, Ihnen fehle etwas. Und Sie haben recht: Die Weltreligionen stellen eine Antwort auf dieses Bedürfnis dar und können ihren Gläubigen dieses Zugehörigkeitsgefühl zum grösseren Ganzen in der Verbindung zu Gott geben.
In Westeuropa ist für viele kein Zugang zur kirchlichen Religiosität mehr möglich. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in den letzten 50 Jahren stark abgenommen hat, doch bestehen spirituelle Bedürfnisse nach wie vor. Wettbewerbsgesellschaft, Wohlstand, Unterhaltungsindustrie und unbegrenzte Konsummöglichkeiten führen bei vielen nicht zu einem erfüllten Dasein. Es bleibt eine Sehnsucht nach Sinn, nach Ganzheit, nach innerer Ruhe und nach Verbundenheit.
Esoterische Angebote oder ostasiatische Spiritualität treten teilweise an die Stelle der traditionellen Konfessionen. Allerdings steckt nicht überall wirklich Spiritualität drin, wo Spiritualität draufsteht. Man braucht auch nicht zwingend einen spirituellen Lehrer oder eine spirituelle Gemeinschaft, um sich auf den Weg zu machen. Wir alle haben spirituelles Potenzial. Es entfaltet sich, wenn wir bewusster zu leben beginnen.
«In der Liebe kann man Momente erleben, in denen man die Ewigkeit zu berühren glaubt.»
Koni Rohner, Psychologe FSP
So können uns Naturerlebnisse auf einer Wanderung das Gefühl vermitteln, selber Teil der wunderschönen Natur und damit eines grösseren Ganzen zu sein. In einem berührenden Konzert kann einen die Musik mit etwas Schönem, Grossem verbinden. In der Liebe kann man Erfahrungen machen, die über Zärtlichkeit und Lust hinausgehen, Momente, in denen man die Ewigkeit zu berühren glaubt.
Zum spirituellen Weg gehören aber auch Mitgefühl und kleine individuelle Beiträge, die Welt etwas besser zu gestalten. Wer andern hilft, andere unterstützt, spürt die Verbundenheit aller Menschen und erlebt darin sein Dasein als sinnvoll.Der Psychotherapeut Bill O’Hanlon hat ein kleines Buch über Spiritualität verfasst (es ist leider nur auf Englisch erhältlich). Darin nennt er Wege, auf denen jedermann Spiritualität erleben kann.
- Zu sich selber finden, ganz bei sich sein, sich seiner Seele verbunden fühlen (nicht wertend auf die eigenen positiven und negativen Gefühle achten)
- Im eigenen Körper sein (Yoga , Tanz, Bewegung, bewusstes Essen und bewusste Sexualität)
- Sich mit einem anderen Wesen oder einer Gemeinschaft verbunden fühlen (andern helfen, Liebe schenken, solidarisch sein)
- Sich der Natur verbunden fühlen (wandern, bergsteigen, schwimmen)
- Sich in Kunst einfühlen (Ausstellungen oder Konzerte besuchen, Gedichte lesen oder selber kreativ tätig sein)
- Sich Gott, einem höheren Wesen verbunden fühlen (im Rahmen einer Glaubensgemeinschaft oder allein und direkt)
Bill O’Hanlon: «Pathways to Spirituality»; Verlag Norton, 2006, 128 Seiten, CHF 20