Wenn Arbeit und Leben verschmelzen
Work-Life-Balance war gestern. Heute ist Work-Life-Blending angesagt: Arbeit und Privates verschmelzen. In der digitalen Welt geht das ganz leicht – ist aber höchst ungesund.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2018 - 16:18 Uhr,
aktualisiert am 25. Oktober 2018 - 16:13 Uhr
Die Situation ist ein Klassiker: «Ich sitze bei einer perfekten Pizza Prosciutto in einem romantischen Lokal und trinke mein Weissbier, da vibriert das Handy», schreibt Buchautor Christian Scholz. Weiter: «Mein Chef – der vielleicht zu Hause in seinem Garten unter seinem Kirschbaum sitzt – hat wieder eine seiner unzähligen genialen Ideen, für die er sofort meinen Input braucht.»
Christian Scholz ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Saarbrücken. Die Szene stammt aus seinem neusten Buch über das Verschmelzen von Berufs- und Privatleben, auf Neudeutsch «Work-Life-Blending». Der Begriff klingt gut – doch Scholz nennt das Work-Life-Blending eine «Mogelpackung»: Es führe zu Stress , Burn-out und richte längerfristig volkswirtschaftlichen Schaden an. Sein Buch ist eine Warnung vor diesem Modell, das sich in unserer Arbeitswelt und in der Gesellschaft immer stärker verbreitet.
Work-Life-Blending ist sozusagen die Fortsetzung der Work-Life-Balance. Damit, wir erinnern uns, ist das Austarieren von Arbeit und Privatem gemeint. Eine gesunde Work-Life-Balance geht davon aus, dass wir die verschiedenen Bereiche unseres Lebens sorgfältig gewichten und ihnen Raum geben: den Beziehungen zu unseren Liebsten, körperlichem und seelischem Wohlbefinden, Hobbys, eigenen Projekten und selbstverständlich auch der Verantwortung am Arbeitsplatz.
Beim Work-Life-Blending hingegen wird das hinfällig. Alles geht ineinander über, Arbeit und Leben verschmelzen. Dank dem Smartphone, diesem alles dominierenden Gadget der Gegenwart, erleben wir einen völlig grenzenlosen «Arbeitsplatz». Wir erliegen der Illusion, dass wir Freizeit geniessen und simultan mehr oder minder wichtige Aufgaben erledigen können: Kaum aus den Federn, beginnen wir zu twittern, beantworten beim Frühstück die ersten Mails, studieren im Zug auf dem Weg zum Büro Sitzungsunterlagen, überprüfen tagsüber auf der Gesundheits-App schnell den Puls oder die Schritte des Tages, klinken uns in den Familienchat ein, verfolgen Börsenkurse, shoppen beim Feierabendbier mit Freunden auf Zalando, und bevor wir erschöpft ins Bett sinken, stellen wir noch rasch ein paar Fotos auf Facebook.
Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa beobachtet diese Entwicklung mit wachsender Sorge. Der Professor aus Jena stellt fest, dass sich Menschen von Dingen, mit denen sie sich beschäftigen, zunehmend entfremden; dass es uns nicht mehr gelinge, in unserer Weltbeziehung «Resonanz» zu erfahren, also voll und ganz in einer Beschäftigung aufzugehen und dabei in «Schwingung» zu geraten.
Eine Ursache dieser Entwicklung sieht er darin, dass durch Work-Life-Blending im Grunde alles und jedes zu Arbeit werde. «Die To-do-Listen explodieren», sagte Rosa kürzlich der Studentenzeitschrift der Universität Freiburg. Das liege an den gesellschaftlichen Erwartungen, die gestiegen seien, was sich in Fragen äussere wie: «Sprechen Sie Latein? Machen Sie regelmässig Sport, 10'000 Schritte am Tag , Yoga?» Rosa erklärt: «Bei all diesen Fragen haben Sie ein schlechtes Gewissen und somit für jeden Moment eine kleine Aufgabe, der Sie nachgehen können, um diesen imaginären Schuldenberg zu verkleinern.»
Explodierende To-do-Listen, die wir nicht im Griff haben, ein Smartphone-Gebrauch, dem wir uns willfährig unterordnen: Fast scheint es, als wären wir selbst daran schuld, dass wir Arbeit und Privates nicht mehr trennen können. Doch dem ist nicht so.
Wirtschaftswissenschaftler Christian Scholz beschreibt Work-Life-Blending vor allem als strukturelles Phänomen: Es sind die Gebote des modernen Arbeitslebens, die unser Privatleben bedrängen und sich dort «metastasenartig» ausbreiten, wie er in seinem Buch schreibt. Die «Gebote» heissen natürlich nicht so, sondern kommen in smarten Codewörtern wie «Flexibilisierung», «Digitalisierung» oder «Open Office» daher. Sie sind Teil des angesagten Corporate Business, gehäuft anzutreffen in grossen, global tätigen Dienstleistungsbetrieben, oft aber auch schon in KMU, bei Detailhändlern oder in Spitälern.
«Nehmen Sie die Krankenschwester mit einem Abrufvertrag», erläutert Scholz im Gespräch. «Sie ist womöglich nur im Teilpensum angestellt, muss aber, weil sie auf Abruf arbeitet , permanent verfügbar sein.» In Deutschland kenne er solche Fälle persönlich. Eine solche Krankenschwester habe ihr Handy stets in Reichweite, sei rund um die Uhr auf Draht, weil ja die Klinik rufen könnte. «In einem solchen Modell geraten die Erholungsphasen, auf die Menschen physisch und psychisch angewiesen sind, völlig ins Abseits.» Die Folgen seien Stress, Schlaf- und Essstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, im schlimmsten Fall Burn-out.
Eine andere Berufsgruppe, die von dieser Abwärtsspirale stark betroffen ist, sich aber dagegen wehrt, sind Lehrpersonen. Eine Nationalfonds-Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz hat 2014 den Stress im Klassenzimmer untersucht und herausgefunden: Jede dritte Lehrperson in der Schweiz ist Burn-out-gefährdet, ebenso viele leiden mindestens einmal pro Monat an depressiven Beschwerden, jede fünfte Lehrperson fühlt sich «ständig überfordert».
«Der Generation Z ist zuzutrauen, dass sie Work-Life-Blending unspektakulär beendet.»
Christian Scholz, Wirtschaftswissenschaftler
Seither kämpfen Gewerkschaften für «bessere Arbeitsbedingungen in der Schule», sprich mehr Ressourcen . Im Grunde aber ist es etwas anderes, nämlich das Work-Life-Blending, das Lehrern das Leben schwermacht. Der Psychologe Jürg Frick, der sich seit Jahren mit der Lehrergesundheit befasst, erklärte das Problem in einem Radiointerview so: «In der Schule ist man nie fertig.» Man könne immer noch etwas mehr machen – den Unterricht noch besser vorbereiten, noch einmal mit einem Schüler sprechen, noch besser mit Eltern etwas klären, im Team ein Projekt weiterverfolgen, kurz: «Irgendwann muss man sich abgrenzen und sagen: Es ist genug.» Doch das falle vielen Lehrern und auch anderen Berufsleuten schwer, die mit Menschen zu tun hätten.
Was also ist zu tun? Auf die Barrikaden gehen wie die Lehrpersonen? Firmen auf gesetzlichem Weg in die Schranken weisen? Eine Offline-Kampagne, gestartet vom Bundesamt für Gesundheit?
Christian Scholz beschreibt in seinem Buch eine ganze Reihe von Gegenentwürfen zum Work-Life-Blending. Im persönlichen Gespräch zeigt sich aber: Er setzt auf die Generation Z. Die «Zler», wie er sie nennt, sind die nach 1995 Geborenen: junge Menschen, denen das Smartphone quasi in die Wiege gelegt wurde und die mit dem Selbstbewusstsein aufgewachsen sind, dass sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. «Ihnen ist zuzutrauen, dass sie den Trend zum Work-Life-Blending unspektakulär beenden», sagt Scholz.
Ein Zler wisse mit dem Smartphone vernünftig umzugehen. Er habe das Gerät unter Kontrolle, schalte es zwischendurch aus, beantworte E-Mails einmal am Tag oder reagiere auf unliebsame Kontakte mit Sperren. Und: «Die Zler mögen Strukturen und klare Arbeitszeiten.» Anders gesagt, beim Work-Life-Blending machen sie nicht mit. Vielleicht sind die Tage des stressverursachenden Phänomens also gezählt. Und To-do-Listen werden wie von Zauberhand verschwinden.
- Christian Scholz: «Mogelpackung Work-Life-Blending. Warum dieses Arbeitsmodell gefährlich ist und welchen Gegenentwurf wir brauchen»; Wiley-VCH, 2018, 232 Seiten, CHF 29.90.–
- Hartmut Rosa: «Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung»; Suhrkamp, 2016, 816 Seiten, CHF 38.90.–
- Jürg Frick: «Gesund bleiben im Lehrberuf. Ein ressourcenorientiertes Handbuch»; Hogrefe, 2015, 392 Seiten, CHF 36.90.–
- Christian Scholz: «Generation Z. Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt»; Wiley-VCH, 2014, 220 Seiten, CHF 31.90.–
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