«Man kann die Nachteile nicht nur auf die Frau abwälzen»
Geschiedene Mütter sollen früher arbeiten müssen, hat das Bundesgericht entschieden. Das sei nicht gerecht, sagt Juraprofessor Roland Fankhauser.
Veröffentlicht am 2. August 2018 - 17:24 Uhr,
aktualisiert am 2. August 2018 - 17:09 Uhr
Die Mutter ist geschieden, das Kind aus einer neuen Beziehung erst ein Jahr alt. Nun soll sie schon wieder arbeiten gehen, weil sie ihren zwei anderen Kindern aus der geschiedenen Ehe Unterhalt schuldet.
So entschied das Bundesgericht kürzlich und weichte damit die alte Regelung weiter auf. Sie besagt: Sobald das jüngste Kind zehn ist, muss die geschiedene Mutter mindestens 50 Prozent arbeiten; ab 16 Vollzeit.
Damit stellen sich Fragen:
- Wer bezahlt wie viel Unterhalt?
- Kann man Mütter zwingen , früher einer Erwerbsarbeit nachzugehen?
Das Urteil zeige, dass die 10/16-Regel demnächst überarbeitet werde, sagt Roland Fankhauser, Professor für Zivil- und Zivilprozessrecht an der Universität Basel.
Gemäss Entscheid des Bundesgerichts, der am 28. September 2018 veröffentlicht wurde, kommt anstelle der 10/16-Regel neu das so genannte Schulstufenmodell zur Anwendung. Für einen bisher hauptbetreuenden Elternteil bedeutet das im Trennungs- oder Scheidungsfall Folgendes: Er muss ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes (je nach Kanton ab Kindergarten oder Primarschule mit ungefähr sechs Jahren) grundsätzlich zu 50 Prozent einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Ab Eintritt in die Sekundarstufe (mit etwa zwölf Jahren) muss er 80 Prozent und ab vollendetem 16. Lebensjahr 100 Prozent arbeiten gehen.
Aus der 10/16-Regel wird also eine 6/12/16-Regel. Von dieser kann gemäss Bundesgericht im Einzelfall aus zureichenden Gründen abgewichen werden. So wird beispielsweise berücksichtigt, dass bei vier Kindern die verbleibende ausserschulische Betreuungslast deutlich höher ist als bei nur einem Kind. Aus diesem Grund soll eine Erwerbstätigkeit von 50 beziehungsweise 80 Prozent je nach Schulstufe nicht unbedingt zugemutet werden. Eine erhöhte Betreuungslast kann sich auch durch eine Behinderung eines Kindes ergeben.
Ausserdem ist vom Gericht jeweils zu prüfen, ob im konkreten Fall – insbesondere, wenn die finanziellen Mittel knapp sind – angemessene Fremdbetreuungsmöglichkeiten bestehen, so dass der bisher Hauptbetreuende schon früher erwerbstätig sein kann.
Update vom 28.09.2018
Beobachter: Ist es fair, wenn Mütter schon nach dem ersten Geburtstag des Kindes arbeiten müssen?
Roland Fankhauser: Man darf diesen Entscheid nicht überbewerten. Erstens betrifft dieser Fall noch das alte Kindesunterhaltsrecht. Und zweitens ist er speziell gelagert: Die Mutter war bereits für zwei Kinder unterhaltspflichtig, dann kam ein drittes aus einer neuen Beziehung hinzu. Deshalb ist dieser Entscheid nicht dahingehend zu interpretieren, dass er allgemeingültig wäre und Frauen nach dem ersten Geburtstag des Kindes wieder einen Job suchen und ihre Kinder durch Dritte betreuen lassen müssen.
Beobachter: Nach dem Entscheid ist doch klar: Geschiedene Mütter müssen früher wieder arbeiten gehen.
Fankhauser: Für mich zeigt er an, dass das Bundesgericht den Boden für eine Veränderung bereitet. Dies, weil es nun schon zum zweiten Mal ausführlich über diese Frage debattiert hat. Und ich bin mir fast sicher: Es wird nicht in Richtung dieses Falls gehen.
Beobachter: Sondern?
Fankhauser: Wahrscheinlich werden die Altersgrenzen herabgesetzt, und voll betreuende Mütter müssen früher wieder eine Teilzeitstelle suchen. Ich rechne mit einer 4/13-, 4/14- oder 4/15-Lösung. Vielleicht wird auch ein Dreistufenmodell eingeführt: dass Müttern etwa mit dem Eintritt ihres jüngsten Kindes in den Kindergarten eine 30-Prozent-Stelle zugemutet wird, ab dem siebten Geburtstag eine 50-Prozent- und später wieder eine Vollzeitstelle.
Beobachter: Macht das noch Sinn? Vier von fünf Müttern und praktisch alle Väter gehen arbeiten.
Fankhauser: Die Realität ist, dass eine Mehrheit der Frauen neben der Kinderbetreuung Teilzeit arbeitet
, während die Männer fast alle 100 Prozent arbeiten und ihr Pensum nur geringfügig reduzieren. Aber für die andern ist diese Regel wichtig.
«Beide Eltern sollten Teilzeit arbeiten und die Betreuung der Kinder zu gleichen Anteilen tragen.»
Roland Fankhauser, Spezialist für Zivilrecht
Beobachter: Sind nicht berufstätige Mütter schlechter geschützt?
Fankhauser: Das ist leider so. Jede Modifizierung der 10/16-Regel geht zulasten der Frauen. Sie werden gezwungen, früher wieder eine Stelle zu suchen oder mehr zu arbeiten, obwohl sie gemeinsam mit ihrem Partner entschieden hatten, dass sie die Kinderbetreuung vollzeitlich übernehmen. Da stellt sich natürlich die Frage: Ist das gerecht?
Beobachter: Was denken Sie?
Fankhauser: Meiner Meinung nach nicht. Und das ist erst recht fragwürdig, weil erst Ende des letzten Jahres das Kindesunterhaltsrecht revidiert und der Betreuungsunterhalt
eingeführt wurde.
Beobachter: Damit wollte man sicherstellen, dass auch Kinder, die nicht in eine Ehe hineingeboren werden, von ihren Eltern betreut werden können. Mit der 10/16-Regel hat dies aber nicht direkt zu tun.
Fankhauser: Das neue Kindesunterhaltsrecht wurde mit dem Kindeswohl begründet und sollte die Ungleichheit zwischen Kindern verheirateter und unverheirateter Paare beseitigen. Das Bundesgericht relativiert nun aber diese Anliegen. Es entschied, dass der Lohn, den die betreuende Person in ihrem Teilzeitpensum verdient, an den Betreuungsunterhalt angerechnet werden muss. Das bedeutet: Je höher das Einkommen ist, desto weniger Betreuungsunterhalt erhält die Person. So muss oft gar kein Betreuungsunterhalt mehr bezahlt werden. Und nun wird wohl auch noch die 10/16-Regel redimensioniert. Die Frauen müssen früher wieder einer Erwerbsarbeit nachgehen, und der Lohn muss gleichzeitig an den Betreuungsunterhalt angerechnet werden. Damit nimmt der Wert der Betreuung noch weiter ab. Und auch der finanzielle Schutz, den die Betreuungsperson erhält.
Beobachter: Beides geht auf Kosten der Person, die die Kinder hauptsächlich betreut. Was schlagen Sie vor?
Fankhauser: Das Betreuungsquotenmodell halte ich für die bessere Lösung. Das bedeutet: Betreut jemand zu 50 Prozent das Kind, erhält er 50 Prozent der Lebenshaltungskosten. Und zwar unabhängig vom Lohn, den er in seinem zusätzlichen 50-Prozent-Pensum verdient. Eine Anpassung der 10/16-Regel erscheint mir richtig. Aber dazu müssten Staat und Wirtschaft auch die Rahmenbedingungen schaffen.
Beobachter: Das bedeutet?
Fankhauser: Karrieremöglichkeiten auch für Teilzeitarbeitende. Gleicher Lohn für Frau und Mann. Keine Pensionskassennachteile bei Teilzeitarbeit. Steuerliche Vorteile bei Drittbetreuung. Längerer Elternurlaub. Und warum nicht ein Reputationslabel für familienfreundliche Unternehmen
, die Teilzeitarbeit auch in Kaderstellen ermöglichen?
Beobachter: Das klingt fast zu schön.
Fankhauser: Nur so lässt sich die Realität verändern. Bleibt alles beim Alten, wird bei einer Trennung leider weiterhin die kinderbetreuende Person die meisten Nachteile allein tragen. Auch längerfristig. Wenn man die Rollen aufteilt, führt das zu Nachteilen, die sich oft erst Jahre später oder gar nicht mehr ausgleichen lassen. Meist hat eine Person beruflich grössere Opfer erbracht, arbeitet Teilzeit und hat deshalb schlechtere Karrierechancen. Ein Kind ist ein gemeinsames Projekt und bringt viel Freude. Aber es geht letztlich darum, die Nachteile, die daraus resultieren, gerecht aufzuteilen. Man kann sie nicht nur auf die Frau abwälzen.
Beobachter: Wie sollen sich werdende Eltern organisieren, um im Falle einer Trennung faire Lösungen
zu finden?
Fankhauser: Beide sollten Teilzeit arbeiten und die Kinderbetreuung zu gleichen Anteilen tragen. Oder aber: Es sollen beide 100 Prozent weiterarbeiten. Das würde aber bedingen, dass der Elternurlaub grosszügiger geregelt, Drittbetreuung ausgebaut und steuerlich privilegiert sowie der Wiedereinstieg in eine 100-Prozent-Tätigkeit erleichtert wird.
Beobachter: Das ist nicht sehr realistisch.
Fankhauser: Da überwiegen wohl jene politischen Kräfte, die an einem traditionellen Familienmodell
festhalten. Es sind übrigens die gleichen, die sich gegen den nachehelichen Unterhalt stellen. Und damit auch gegen einen Ausgleich der Nachteile, die durch dieses Modell entstanden sind. Für mich ist das ein Widerspruch.
Beobachter: Lässt sich juristisch nichts machen, um fairere partnerschaftliche Lösungen zu ermöglichen?
Fankhauser: Leider nein. Sie können das Familienrecht verändern, wie Sie wollen. Wenn die Wirtschaft die Menschen nicht aufnehmen kann, welche neben der Kinderbetreuung noch erwerbstätig sein müssen, werden trotz aller Regeln weiterhin viele in der Sozialhilfe landen
.
Will sich ein Ehepaar trennen, gilt es, einige Punkte am besten schriftlich zu vereinbaren. Beobachter-Mitglieder erhalten dazu hilfreiche Vorlagen sowie Fallbeispiele einer Bedarfsrechnung für die Trennungsalimente. Ausserdem wird aufgezeigt, wie nicht bezahlte Alimente eingetrieben werden können.