Die Frau findet es unerträglich, was mit Angehörigen von Patienten und Heimbewohnern gemacht wird. Über Wochen können sie nicht besucht werden. Vielleicht müssen sie ihre letzten Tage ohne Abschied von den engsten Angehörigen verbringen. Die Frau protestiert mit einem selbstgemalten Kartonplakat auf dem Zürcher Sechseläutenplatz. Protest gegen die Corona-Massnahmen Coronavirus Rechtliche Fragen zur Lockerung der Massnahmen .

Trotz Verbot wegen des Lockdowns haben sich ein paar Hundert Leute versammelt. Der Soundtrack irritiert. «Hare Krishna, Hare Rama», hallt es über den Platz. Krishna-Anhänger singen und musizieren. Einer sprüht sich mit einem Wasserspray ein und lacht verschmitzt: Desinfektionsritual.

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Daneben schwingt ein stämmiger Mann eine Schweizer Fahne. Einige Demonstranten verteilen die Bundesverfassung und verweisen auf die Grundrechte, die durch die Corona-Massnahmen verletzt würden, zwei andere heben Plakate hoch: gegen den Impfzwang und «Gates noh!». Eine Gruppe von Frauen reicht sich die Hände, sie lachen: «Wir lassen uns von der Corona-Panik Coronavirus-News «Die Nachrichten machen uns Angst» nicht anstecken.»

Nur eine Grippe?

Es ist unmöglich, die unterschiedlichen Ansichten der Protestierenden unter einen Hut zu bringen. Ist das Virus nun harmlos wie eine Grippe? Oder brandgefährlich und von dunklen Mächten in die Welt gesetzt? Alles scheint möglich. «Es ist der Mut zum eigenen Denken, der uns verbindet», sagt eine Demonstrantin. Eher der Glaube an krude Verschwörungstheorien , berichteten dagegen Medien. Und: Zu den Protesten stachelten auch rechtsextreme Aktivisten auf.

«Es fragt sich, wer hier an eine Verschwörungstheorie glaubt», sagt die Frau. «Wir, die gegen eine reale Unterdrückung protestieren – oder Medien, die uns als manipuliert darstellen.»

Man könnte die paar Hundert Demonstranten rechts oder auch links liegenlassen. Doch gemäss Umfragen glauben 20 bis 50 Prozent der Bevölkerung an geheime Mächte, die einen wesentlichen Einfluss auf politische Prozesse ausüben. Gemäss einer repräsentativen Befragung von Tamedia im Mai sind 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer überzeugt, das Coronavirus sei aus einem Labor freigesetzt worden.

Eigene Forschung

Der Kampf um Wahrheit und Wahn wird nicht nur in den Medien ausgefochten. Die Konfrontation mit irritierenden Erklärungen zu Corona ist für viele alltäglich. Auch Beratungsstellen wie die evangelische Relinfo verzeichnen einen Anstieg bei Anfragen zum Thema. «Nicht jeder Lockdown-Kritiker Corona-Schutzkonzepte Kritik an den Kontrollen von Bund und Kantonen ist aber Verschwörungstheoretiker. Und längst nicht jeder, der es tut, teilt rechtsextreme Ansichten», sagt Marko Kovic.

Der Mitbegründer des Vereins Skeptiker Schweiz setzt sich für ein kritisches Denken ein, das logische Fehlschlüsse und kognitive Verzerrungen minimieren soll. Er hat zu Verschwörungstheorien geforscht, unter anderem mit einem Experiment.

«Stellen Sie sich vor, ein Journalist deckt einen grossen Korruptionsskandal in Regierungskreisen auf und wird kurz darauf tot in seiner Wohnung gefunden. Herzinfarkt, lautet die offizielle Todesursache. Wir haben 500 Personen gefragt, für wie plausibel sie die Diagnose halten. Je nach befragter Gruppe hatte der Journalist ein anderes Alter. Wenn es um eine junge Person ging, hielt es ein beträchtlicher Teil der Befragten für wahrscheinlich, dass er ermordet wurde. Je älter der Journalist war, desto plausibler erschien ihnen der Herzinfarkt.»

Mythen statt Theorien

Was sagen solche Experimente aus? «Je unwahrscheinlicher ein Ereignis ist, desto stärker ziehen wir eine verschwörerische Erklärung in Betracht», sagt Marko Kovic. Ist das plötzlich aufgetauchte Virus tatsächlich nur eine üble Laune der Natur? Könnte jemand davon profitieren? Haben die Lockdown-Massnahmen eigentlich einen ganz anderen Zweck als den Schutz vor einer Erkrankung Schutz vor Coronavirus Der Masken-Mythos ?

«Die Coronakrise ist eine ideale Projektionsfläche, um konspirative Machenschaften zu vermuten», sagt Marko Kovic. Legitime Kritik und Verschwörungsmythen gelte es dabei zu unterscheiden. «Der Begriff Verschwörungsmythen umschreibt das Problem wohl besser. Denn Theorien können in einem wissenschaftlichen Sinn überprüft werden.» 

Reale Verschwörungen

Und es gibt ja bewiesene Verschwörungen: die Existenz von Geheimarmeen in Europa zum Beispiel – bis 1990 mit der P-26 auch in der Schweiz. Die Verschwörung im VW-Konzern, die eine manipulierte Software hervorbrachte, um bei Abgastests zu betrügen. Oder die Verbreitung falscher Informationen durch die USA zur Vorbereitung des Irak-Kriegs.

«Wer dagegen heute behauptet, Bill Gates habe das Coronavirus in die Welt gesetzt, weil er bereits einen Impfstoff Suche nach Impfstoff gegen Covid-19 Der Mann, der zu viel will besitze und ein gigantisches Geschäft vorbereite, konstruiert eine Verschwörung, die niemand belegen kann», sagt Marko Kovic. Auch gibt es wohl keine unterirdischen Gewölbe, in denen die pädophile Weltelite Kinder missbraucht, wie es Anhänger der sektiererischen QAnon-Bewegung glauben. Die hat mittlerweile den Sprung aus den USA auch in die Schweiz geschafft.

Dagegen ist der wachsende finanzielle Einfluss der Gates-Stiftung auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) keine Verschwörungstheorie. «Der lässt sich ja belegen. Und eine Kritik ist auch nachvollziehbar, weil Gates ja nicht mal Gesundheitsexperte ist, sondern schlicht extrem reich.»

Aber auch gegenüber verschwörerischen Meinungen rät Kovic zu einem offenen und interessierten Umgang. «Man sollte mit Empathie und Verständnis auf solche Leute zugehen «Ein Konstrukt zur Unterdrückung» Wie mit Corona-Skeptikern im Umfeld umgehen? , nach einem gemeinsamen Nenner suchen, statt sich über sie lustig zu machen.» Andernfalls drohe ein Backfire-Effekt. Das zeige zum Beispiel eine Studie zu Impfskeptikern. Wenn man ihnen einfach Informationen vorhält und darauf hinweist, dass sie unrecht haben, glauben sie danach noch stärker, dass Impfungen zum Beispiel Autismus verursachen. «Die meisten Verschwörungsanhänger sagen ja, es gehe ihnen um kritisches Denken. Eigentlich etwas Gutes. Genau hier sollte man anknüpfen und Widersprüche oder logische Fehler wohlwollend diskutieren.»

Aufruf zum Boykott

Die hitzigen Auseinandersetzungen um Verschwörungstheorien provozierten unübliche Aktionen. So verbannte Coop im Mai die Bioprodukte des deutschen Herstellers Rapunzel aus den Vitality-Apotheken. Nicht weil es an den Produkten etwas auszusetzen gab, sondern weil Rapunzel-Gründer Joseph Wilhelm ein überzeugter Impfgegner Impfen Warum der Streit so heftig ist ist. Er kritisierte die Lockdown-Massnahmen in Deutschland und bezeichnete Viren als «Teil des biologischen Lebens auf unserer Erde, die ihren Beitrag zur Weiterentwicklung desselbigen und der menschlichen Anatomie und Psyche leisten». Impfen liesse er sich nur «über meine Leiche».

Der Rapunzel-Boykott provozierte wiederum Boykottaufrufe gegen Coop. «Ich sehe das vor allem als eine PR-Aktion», sagt Kommunikationswissenschaftler Marko Kovic. Und ein Detailhändler könne ja grundsätzlich frei entscheiden, welche Produkte er im Sortiment haben will. «Aber manche Kunden fragen sich vielleicht, warum man aus anderen Gründen nicht Nestlé Fragwürdiges Label Bundeshilfe für Nestlés Geschäfte oder andere umstrittene Firmen aus dem Sortiment nimmt.»

Der Umgang mit Wahrheit und Verschwörung reisst offenbar Gräben durch die Gesellschaft. Dagegen hilft vielleicht der Rat des Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890–1935): «Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.»

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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