Wie mit Corona-Skeptikern im Umfeld umgehen?
Die Corona-Krise wirft Fragen auf, die niemand so richtig beantworten kann. Wie können wir der Ungewissheit begegnen und wie gehen wir mit Mutmassungen unseres Umfelds um?
Veröffentlicht am 20. Mai 2020 - 10:17 Uhr
Leserfrage: «Ein Freund behauptet, Corona sei ein Konstrukt, mit dem wir unterdrückt werden sollen. Was antworte ich?»
Eine spannende Frage. Es geht hier um Verschiedenes. Wie ist diese Corona-Epidemie zu betrachten? Warum gibt es so viele Theorien dazu, mit völlig verschiedenen Blickwinkeln? Warum sind Verschwörungstheorien so präsent? Und schliesslich Ihre konkrete Frage: Was antworten Sie Ihrem Freund?
Wie wir die aktuelle Pandemie sehen, hat sehr mit unseren direkten Erfahrungen zu tun. Wer selbst erkrankt ist, Kranke oder Todesfälle im Umfeld hat, sieht in der Regel klar die Gefahr der Pandemie und unterstützt einschneidende Schutzmassnahmen .
Eindrücklich war dazu der Haltungswechsel des britischen Premierministers Boris Johnson. Er und seine hochschwangere Partnerin wurden infiziert, er erkrankte schwer. Lange nahm die britische Regierung die Pandemie wenig ernst, nun gehört Grossbritannien zu den vorsichtigsten Ländern.
«Ich mache mir auch viele Gedanken zu dieser Pandemie. Und auch ich habe viele Fragen.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Wer hingegen das Virus und seine direkten Auswirkungen nur aus den Medien kennt, hat wohl anfänglich stark auf die Bilder aus Bergamo reagiert, sieht nun aber eher den Scherbenhaufen seines lahmgelegten Kleinbetriebs und fragt sich, ob die einschneidenden Massnahmen wirklich nötig waren.
Mir persönlich geht es genauso. Ich gehöre zu beiden Gruppen, schwanke hin und her in meinen Ansichten. Als Mitglied einer Pandemiegruppe habe ich mich recht intensiv mit Corona und Covid befasst. Anfangs fast Tag und Nacht , mittlerweile bin ich etwas Corona-ermüdet. Wir haben uns auf einen Tsunami vorbereitet. Mitarbeitende unserer Spitäler haben fast über Nacht eine spezielle Intensivpflegestation erschaffen, all unsere Kliniken wurden mehr oder weniger auf den Kopf gestellt.
Warten tun wir im Berner Oberland immer noch, auch wenn inzwischen das Abstauben der leeren Intensivpflegestation fast Freude bereitet. Heisst das nun, dass wir alles richtig gemacht haben und uns deshalb schützen können, oder hätte weniger auch gereicht?
Als Chefarzt der Psychiatrie sehe ich auch all die Menschen, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden, denen ihre Existenzängste so zusetzen, dass sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen haben . Ich sehe Menschen, die die Isolation oder das Gedränge mit Kindern in der engen Wohnung kaum aushalten.
Nun stehen also all diese Fragen im Raum: Macht es der Bundesrat richtig? Macht es Schweden besser? Woher stammt das Virus? Wie überträgt es sich? Kann man China trauen? Kann man den USA trauen? Und diese neuen Lokalisierungsapps ? Sind die sicher?
«Für viele dieser Fragen wird es wohl fünf Jahre dauern, bis wir schlüssige Antworten haben.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
All diese Fragen lassen sich zum heutigen Zeitpunkt noch nicht schlüssig beantworten. Wir leben in Ungewissheit. Und Ungewissheit halten wir Menschen ganz schlecht aus. Laut Studien sogar schlechter als etwas Negatives, das wirklich eingetroffen ist. Wir brauchen Muster, Regeln, Erklärungen, klare Antworten. Alles andere macht uns unruhig.
Ungewissheit aushalten zu können, ist aber eine wichtige Fertigkeit im Leben. Vieles lässt sich nämlich erst mit der Zeit beurteilen. Für viele der obigen Fragen wird es wohl fünf Jahre dauern, bis wir schlüssige Antworten haben.
Um Unsicherheit aushalten zu können, ist eine Grundsicherheit nötig, ein Vertrauen, dass vieles im Leben gut kommt. Aber eben, da wir Ungewissheit schlecht aushalten, suchen wir Antworten. Und da kommen oft Verschwörungstheorien ins Spiel . Sie sind meist so gestrickt, dass sie alle Fragen beantworten. Alle.
Verschwörungstheorien treten zudem oft dann auf, wenn scheinbar alle mit dem Strom schwimmen und etwas ähnlich sehen. Da wird plötzlich die Gegenstimme interessant. Wir alle schwimmen gern gegen den Strom. Drei Viertel von uns vertreten mindestens einen Standpunkt, der unter eine Verschwörungstheorie fällt. Verschwörungstheorien sind auch nicht per se schlecht. Einige von ihnen haben sich ja mit der Zeit als wahr erwiesen.
Wie können Sie Ihrem Freund nun antworten? Normalerweise gebe ich nur Anhaltspunkte, woran man bei einer Antwort denken sollte. Hier jetzt mal anders – mit diesen Worten würde ich persönlich antworten:
«Ich mache mir auch viele Gedanken zu dieser Pandemie. Und auch ich habe viele Fragen. Wohl nur die Zeit wird uns zeigen, wie wir uns am besten verhalten hätten und was die Antworten sind. Für unterdrückt halte ich uns aber nicht, dafür habe ich zu viele Länder bereist und teilweise auch dort gelebt. Ich schätze es, wie unsere Regierung mit dem Thema umgeht. Tauschen möchte ich nämlich mit dem Bundesrat im Moment nicht.»
1 Kommentar
"Verschwörungstheorien sind auch nicht per se schlecht. Einige von ihnen haben sich ja mit der Zeit als wahr erwiesen."
Das ist eine Relativierung und Trivialisierung von Verschwörungstheorien, die höchst bedenklich ist. Wenn man weiss, was für einen enormen Schaden und unsägliches Leid etwa anti-semitische Verschwörungstheorien über die Jahrhunderte hinweg bis in die Neuzeit angerichtet haben, und auch jetzt wieder verursachen, kann man eine derartige Aussage nicht tolerieren. Sie hilft, Verschwörungstheorien quasi salonfähig zu machen. Sie sollten mit Nachdruck darauf hinweisen, dass solche Theorien irrational und gefährlich sind, statt sie zu verharmlosen.