Sie setzt sich unermüdlich für Menschen mit Long Covid ein
Chantal Britt wurde selber krank – und gründete die Patientenorganisation Long Covid Schweiz. Damit kämpft sie für Betroffene im ganzen Land.
Veröffentlicht am 11. August 2024 - 06:00 Uhr
«Ich will an die Aare», verkündet Chantal Britt am Berner Bahnhof. Dorthin, wo sie früher kilometerweit gerannt ist. Wo sie heute noch ab und zu schwimmt. Also gut! Ab durch die Berner Altstadt, vorbei am Bundeshaus, runter zum Fluss.
Das Freibad Marzili wirkt an diesem Montag verlassen, der Weg am Waldrand wie ausgestorben. Es tropft aus den Bäumen, die Nacktschnecken schleimen über den Kies. In der Nacht hat es geregnet, die Sonne scheint erst zaghaft.
Vier Jahre Long Covid – und nichts ist wie zuvor
«Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung», sagt Chantal Britt – in knielanger Hose, Pulli mit Reissverschluss, Turnschuhen. Ihre Uniform für den Alltag, bequem und praktisch.
Long Covid: Was ist das?
In den letzten Jahren habe sie Bern zu Fuss erkundet. «Solange es flach ist, kann ich fast ewig laufen», sagt sie. Sobald es aufwärtsgeht, sieht es anders aus. Dann ringt sie nach Luft.
«Wie der ultimative Muskelkater nach einem Langstreckenlauf.»
Chantal Britt, Long-Covid-Betroffene und Patientenaktivistin
Chantal Britt leidet seit über vier Jahren an Long Covid. Wenn sie ihren Körper falsch oder zu stark belastet, folgen später Muskelschwäche und Schmerzen (Belastungsintoleranz). «Wie der ultimative Muskelkater nach einem Langstreckenlauf.» Nur ohne das Adrenalin und das Glücksempfinden.
All das, was ihr früher so Spass bereitet hat. Die 55-Jährige ist vor ihrer Erkrankung unzählige Marathons gerannt. In Berlin, Luzern, Barcelona, Montpellier – alles Städte, in denen ihre Familie verwurzelt ist.
Herzrasen aus dem Nichts
Britt ist kein Mensch, der lange hadert oder der Vergangenheit nachhängt. Und doch: «Sport ist ein wunder Punkt.» Ihr Körper, der nicht mehr tut. Hobbys, die nicht mehr sind: Skifahren, Snowboarden, Tennis, Squash, Badminton. «Das tut weh, so was lässt sich nicht schönreden.»
Sie verliert oft Fokus und Faden, wird fahrig, braucht Pausen.
Neben der Belastungsintoleranz hat Chantal Britt auch kognitive Probleme. Sie verliert Fokus und Faden, wird fahrig, braucht Pausen. Am schlimmsten ist es, wenn sie multitasken soll. Auf der Autobahn zum Beispiel – inzwischen fährt sie fast gar nicht mehr. Ein weiteres Symptom: Herzrasen, völlig aus dem Nichts.
Die Kontrolle zurückgewinnen
Long Covid ist frustrierend. Die 55-Jährige hätte allen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Doch dem wäre es dort zu langweilig: «Ich kann nicht still sitzen, war noch nie der Yogatyp. Achtsamkeit, uff, schwierig!»
Britt spricht viel und schnell, wirkt quirlig und dynamisch. «Andere halten mich für hyperaktiv, aber hey, so bin ich halt.» Das sei gut, weil man ihr die Einschränkung nicht sofort anmerke. Und schlecht, weil man ihre Beschwerden unterschätze.
Kurzer Stopp auf dem Schönausteg. Die Brücke ist mit kleinen Schlössern behängt, Chantal Britt zückt ihr Handy, checkt die Aare-Temperatur. Heute ist es ihr zu kalt für einen Schwumm. «Irgendwann mache ich hier einen Rückwärtssalto!», verspricht sie. Weiter gehts in Richtung Tierpark Dählhölzli. Links ein paar Ferkel, rechts eine Trillion Schnecken, dazwischen Pfützen wie Teiche.
Die Symptome hielten an, die Hoffnung auf Besserung schwand. Plötzlich war alles anders.
Britt infizierte sich im März 2020. Als Corona noch eine «böse Erkältung» war und niemand von Long Covid sprach. Ihre Symptome hielten an, die Hoffnung auf Besserung schwand. Plötzlich war alles anders, nur eines half: aktiv bleiben. Die Kontrolle zurückgewinnen. Im Herbst 2020 gründete Britt zusammen mit anderen Betroffenen eine Facebook-Gruppe, ein halbes Jahr später die Patientenorganisation Long Covid Schweiz. «Irgendjemand musste ja», sagt sie.
Studien lesen, Kontakte knüpfen
Fakten helfen ihr, also fuchst sie sich ein. Liest Fachartikel und Studien, verbringt ihre Freizeit auf Twitter, knüpft Kontakte mit Forschenden und Betroffenen, gibt Wissen an die Community weiter. «Ich fand eine Möglichkeit, all meine Fähigkeiten einzusetzen», sagt sie.
Britt ist gelernte Übersetzerin und arbeitet seit 25 Jahren als Journalistin und Kommunikationsfachfrau. Ihre Fachgebiete: Medizin und Wissenschaft. Komplexe Zusammenhänge für Laien übersetzen. Passt wie die Faust aufs Auge.
Bald wird Britts Organisation zu einer Anlaufstelle, auf die sogar das BAG verweist.
Die Organisation wächst schnell. Bald wird sie zu einer Anlaufstelle, auf die sogar das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verweist. Diese Arbeit als Patientenvertreterin sei ermächtigend, sagt Britt – ein Lichtblick. Bezahlt wird sie dafür aber nicht.
Long Covid Schweiz besteht aus einem ehrenamtlichen Vorstand. Alle Vorständinnen sind von der Krankheit betroffen – und opfern trotzdem Freizeit und Energie.
«Ich habe das Glück, dass ich daneben noch eine Teilzeitstelle bei der Berner Fachhochschule stemmen kann», sagt Chantal Britt. Work-Life-Balance? «Pffff, fragen Sie meine Familie!» Ihren Mann und die drei Kinder, bereits junge Erwachsene.
Engagement war ein bewusster Entscheid
Verschnaufpause bei der Parkanlage Elfenau. Hier ein paar Hunde, da ein paar Kinder – Bern erwacht. Vorbei an einer Wald-Kita, zurück ins städtische Botschaftsviertel. Zu einem Altbau mit grünen Fensterläden.
Im Kies liegen Muscheln aus Frankreich, auf dem Briefkasten steht: «Britt». Drum herum: «Brittcomm», ihre Beratungsfirma. «Long Covid Schweiz», mit fettem Edding – zweimal, «weil meine Handschrift erst nicht leserlich war».
«Es braucht Mut, sich als kranke Person zu outen: Long Covid polarisiert.»
Chantal Britt, Betroffene und Patientenaktivistin
Die Patientenorganisation ist bei ihr zu Hause. Aus ihrer Adresse macht sie kein Geheimnis. «Ich habe mich bewusst dafür entschieden, als Person mit Gesicht und Namen hinzustehen. Für alle, die das eben nicht können», sagt sie. Es brauche Mut, sich als kranke Person zu outen – und Long Covid polarisiert.
Nicht jede Diskussion ist die Energie wert
Das zeigen wütende Briefe, E-Mails, Anrufe. Von Impfkritikern und Verschwörungstheoretikerinnen. Der absurdeste Vorwurf: Der Verein sei schon vor der Pandemie gegründet worden. «Uns wird vorgehalten, wir würden in irgendeiner Form von der Aufmerksamkeit profitieren. Bis jetzt habe ich noch nicht herausgefunden, welchen Nutzen wir davon haben sollen.»
Selber betroffen? Hier finden Sie Unterstützung
Inzwischen lasse sie sich nicht mehr auf jede Diskussion ein. «Ich merke schnell, wenn ein Gegenüber nur streiten will. Das kostet mich zu viel Energie.» Wie alle Betroffenen muss sie priorisieren und darf ihre Belastungsgrenze nicht überschreiten. Tut sie es doch, verschlimmern sich die Symptome.
Patienten müssen stärker einbezogen werden
Auf der Kirchenfeldbrücke bleiben neugierige Blicke an Chantal Britt hängen. Manchmal erkennen sie Menschen aus den Medien, können sie aber nicht zuordnen. Im vergangenen März wurde sie mit dem renommierten Viktor Award ausgezeichnet – als herausragendste Persönlichkeit im Schweizer Gesundheitswesen. Zum ersten Mal ging der Preis nicht an eine medizinische Fachperson, sondern an eine Patientin.
Ein wichtiges Zeichen, findet Britt: «Die Hierarchie zwischen Patienten und Expertinnen ist noch immer gross, Gespräche finden selten auf Augenhöhe statt.» Das Gesundheitswesen habe es bisher versäumt, beide Seiten zusammenzubringen. Anders in Ländern wie Frankreich, England oder Schweden – da sei Patientenbeteiligung selbstverständlich.
«Nur informierte Betroffene können Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen.»
Chantal Britt
Wie sie gelingen kann, erforscht Britt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule. Wie so oft liege der Schlüssel in der Kommunikation: «Patienten und Fachpersonen müssen informiert und befähigt werden. Erst dann können Betroffene Entscheidungen treffen und Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen.»
Von der aktiven Mitwirkung profitieren alle: «Die Versorgung wird besser auf Bedürfnisse abgestimmt. Das sorgt für mehr Fairness, Transparenz und Vertrauen.»
«Es braucht ein Umdenken im Gesundheitswesen.»
Chantal Britt
Berner Bahnhof. Chantal Britt läuft in Schlaufen durch die Altstadt, weil das Wichtigste noch nicht gesagt ist: «Es braucht ein Umdenken in unserem Gesundheitswesen, ein neues Miteinander!»
Sie ist Mitglied im Patientenbeirat der Patientenorganisation SPO, die Erkrankte und Angehörige berät. Daneben brauche es aber auch eine rein patientengeführte Organisation, die die Interessen der Betroffenen auf politischer Ebene vertritt.
«In der Schweiz gibt es für jede Krankheit eigene Vereine, Stiftungen und Organisationen – oft in jedem Kanton.» Theoretisch sei das praktisch, es komme aber zu Verzettelung und Grabenkämpfen. «Wir müssen am selben Strick ziehen, nicht ‹ellböglen›. Nur so erreichen wir die nötigen Veränderungen für eine bessere Versorgung.»
Endlos Geduld aufbringen ist schwierig
Daran glaube sie. «Ich bin ein positiver Mensch, das lasse ich mir nicht nehmen. Wir werden Lösungen finden!» Und sobald es diese gibt – wenn Menschen mit einer chronischen Fatigue wie sie endlich Hilfe finden –, will sie wieder Marathons laufen. «Vor ein paar Wochen ist mein Mann in Kopenhagen gerannt. Ich hatte mir eine Startnummer bestellt, habe sie aber wieder freigegeben und nur zugeschaut.» Es brauche noch Geduld – nicht ihre Stärke.
«Wenigstens kann ich noch gehen, man wird genügsam.»
Chantal Britt
Nach drei Stunden macht sich Chantal Britt auf den Heimweg, natürlich zu Fuss. Zwei Wochen später wird sie sich eine Hamstring-Sehne reissen. «Ich habe gelesen, dass manche Erkrankte mit kurzen, hochintensiven Sprints trainieren. Das wollte ich ausprobieren – nicht meine beste Idee.»
Nun müsse sie sich schonen. «Wenigstens kann ich noch gehen, man wird genügsam», schreibt sie in einer E-Mail. Solange sie nicht still sitzen muss, ist alles gut.
Sie setzt sich unermüdlich für Menschen mit Long Covid ein: Chantal Britt
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1 Kommentar
"Chapeau", Chantal Britt für Ihren Mit, Ausdauer und Resilizienz, die Situation zu meistern und darüber zu sprechen. Traurig nur, dass es Menschen gibt, die so wenig Verstand haben, dies zu würdigen. Diese Tendenz zu hässlichen Kommentare / Anfeindungen nehmen leider zu. Zeigt den Zustand unserer Gesellschaft!