Erwachsen und noch immer zappelig
Im Übermass zerstreut, unruhig und impulsiv – an ADHS leiden nicht nur Kinder. Betroffene Erwachsene müssen privat und beruflich oft untendurch. Drei Patienten erzählen.
aktualisiert am 6. März 2019 - 15:08 Uhr
Ein Zappelphilipp kann nicht nur zappeln, er kann auch reden, viel reden. So wie Therese G. (Name der Redaktion bekannt) aus dem Kanton Nidwalden. Was als lockeres Gespräch beginnt, entwickelt sich alsbald zu einem veritablen Informationsbombardement – und zur Geduldsprobe. Jegliche Versuche, sie zu stoppen, ignoriert sie gekonnt.
Sie redet weiter, 70 Minuten lang, schier ohne Luft zu holen. Zwei Tage später entschuldigt sie sich per Mail: «Leider habe ich während des Gesprächs verpasst, mein Medikament zu nehmen. Ich war recht zerstreut, die Sätze sprudelten heraus. Danke für Ihr geduldiges Zuhören!»
Therese G. ist 36 Jahre alt und leidet an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), auch bekannt als Zappelphilipp-Syndrom. Bis vor einigen Jahren war auch in Fachkreisen die Meinung verbreitet, dass ADHS nur bei Kindern auftritt , sich im Laufe der Zeit also auswächst. Mittlerweile gehen die Experten jedoch davon aus, dass die Symptome nur bei rund der Hälfte der Kinder verschwinden, bei den anderen bleibt die Störung bestehen. Laut Schätzungen sind etwa vier Prozent der Erwachsenen betroffen.
Weil ADHS im Erwachsenenalter jedoch eine relativ neue Diagnose ist, wissen nur die wenigsten Betroffenen davon. Viele setzen sich mit ihrem Leiden erst auseinander, wenn bei ihren Kindern ADHS diagnostiziert wurde: Sie erkennen sich in den Symptomen wieder. Tatsächlich werden heute genetische Faktoren als Ursache vermutet: Man hat festgestellt, dass innerhalb einer Familie meist mehrere Personen betroffen sind, die Störung also häufig vererbt wird.
Die Kernsymptome der Störung manifestieren sich bei Erwachsenen jedoch teils anders als bei Kindern, insbesondere was die Hyperaktivität betrifft. Die Störung im Aufmerksamkeitsbereich und die Impulsivität verändern sich mit dem Älterwerden hingegen kaum.
Doch Zerstreutheit, Vergesslichkeit, Impulsivität oder innere Unruhe allein sind noch kein Beweis, dass eine ADHS vorliegt. Dies sind alles Symptome, die bei vielen psychischen Erkrankungen auftreten können – im Einzelfall sind es auch ganz normale Wesenszüge. Entscheidend bei der Diagnose sind die Summe der Symptome, ihr Ausprägungsgrad sowie die Dauer ihres Auftretens.
Einen grossen Stellenwert in der Diagnostik haben auch die Lebensgeschichte sowie die Aussagen von Eltern oder engen Freunden. Zudem muss es klare Hinweise darauf geben, dass die Störung die Betroffenen in mehreren Lebensbereichen massiv beeinträchtigt, etwa bei der Arbeit und im Alltag.
Bei Therese G. war dieser Nachweis leicht zu erbringen. Auch sie begann sich erstmals mit dem Thema auseinanderzusetzen, als bei ihrem ältesten Sohn ADHS diagnostiziert wurde . Das war vor gut acht Jahren. Damals stand Therese G. nicht nur psychisch und finanziell am Abgrund, sondern auch mit einem Fuss im Gefängnis. Seit ihrem 16. Lebensjahr hatte Therese G. zwanghaft Produkte im Versandhandel bestellt – bezahlt hat sie jedoch selten. Zudem war sie eine unverbesserliche Schwarzfahrerin, und fuhr sie einmal Auto, dann fahrlässig. Die Autoprüfung hatte sie erst im siebten Versuch bestanden.
In der Schule galt sie als Versagerin – man diagnostizierte vieles, unter anderem Lernschwäche und Legasthenie. Doch eigentlich war Therese G. für ihr Umfeld einfach ein grosses Fragezeichen. Freundinnen hatte sie in der Schule keine, mit ihrer Prahlerei und ihren Lügengeschichten manövrierte sie sich selber ins Abseits. Zu allem Übel war sie auch noch aggressiv, wenn man sie, die dicke Therese, mal wieder hänselte. «Ich war eine Geächtete», sagt Therese G. rückblickend, «zuletzt verbrachte ich die Pausen meist auf der Toilette.»
Die Folgen: Mit 30 hatte Therese G. nicht nur Schulden von rund einer Viertelmillion Franken, sondern auch zwei Selbstmordversuche , zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken sowie eine Scheidung hinter sich und war unterdessen alleinerziehende Mutter von vier Kindern. «Mein Leben war ein einziger Scherbenhaufen», meint sie, «richtig beschämend.»
Zur Diagnose ADHS kam Therese G. zufällig – und es brauchte einen weiteren Eklat: «Auf einem Wochenendausflug mit meinem Ex-Mann erlitt ich völlig unbegründet einen massiven Eifersuchtsanfall», erinnert sie sich an jenen Samstag in Luzern. Sie geriet völlig ausser sich und musste notfallmässig ins Spital eingeliefert werden. Ihr Glück: Dienst hatte ein Psychiater, der auf ADHS spezialisiert ist. «Aufgrund meiner Lebens- und Familiengeschichte sprach er mich relativ schnell darauf an», so Therese G. Es folgten mehrere Sitzungen, diverse Abklärungen – am Ende stand die Diagnose fest: ADHS.
Die Wirkung übertraf ihre Erwartungen. «Ich möchte mich nicht hinter dieser Diagnose verstecken oder mein Handeln damit entschuldigen, aber plötzlich konnte ich wieder Dinge erledigen, die für andere Menschen alltäglich sind; wie Briefe rechtzeitig aufgeben oder aufräumen.»
Therese G. hat nach wie vor mir ihren alten Verhaltensmustern zu kämpfen, das Methylphenidat hat nicht einfach die Symptome ihrer ADHS «weggeblasen», doch es hat diese so weit gelindert, dass sie die weiterführende Verhaltenstherapie beginnen konnte, die sie seither einmal wöchentlich besucht.
Die ADHS-Spezialistin Dominique Eich nennt Methylphenidat denn auch einen «Spazierstock». Allerdings können oder wollen nicht alle an ihm gehen. Rund ein Drittel der Betroffenen sprechen darauf nicht an, andere halten grundsätzlich nichts davon, bezeichnen Ritalin und Co. als «chemische Zwangsjacken».
Eine Alternative zu Medikamenten ist das sogenannte Neurofeedback – auch EEG-Biofeedback genannt; ein computergestütztes Gehirntraining, das verschiedene Hirnfunktionen wie Konzentration, Gedächtnis oder Entspannung trainiert. Studien haben teils positive Resultate gezeigt.
Ob mit Methylphenidat oder Biofeedback, mit Homöopathie , Ernährungsumstellung, Verhaltens- oder Sozialtherapie – ADHS kann man nicht heilen, nur behandeln. Und das ist für die Betroffenen ein langer (Leidens-)Weg – der mitunter auch mal in einen Kühlraum im Keller führt.
Just dorthin flüchtete jeweils Regula G. (Name der Redaktion bekannt), wenn sie mal wieder «ihre fünf Minuten» hatte, wie es ihre Arbeitskolleginnen nannten. Fünf Minuten, in denen sie aus einer Mücke einen Elefanten machte, völlig überreagierte, nur weil eine Angestellte ein Sandwich falsch eingeräumt hatte. Dann ging sie zur Abkühlung in den Keller, schloss sich ein – und schrie.
«Heute bin ich nur noch selten dort unten», sagt die 40-Jährige. Seit einem halben Jahr lebt sie mit der Diagnose ADHS, nimmt seit zwei Monaten Methylphenidat und geht in die Verhaltenstherapie. Die Diagnose war «sehr befreiend», wie sie sagt: «Endlich konnte ich die Symptome einordnen, die mir so lange das Leben schwergemacht hatten.»
Die Schule sei ein «Chnorz» gewesen. Vokabeln büffeln, sich konzentrieren: für Regula G. schier unmöglich, entsprechend schlecht waren ihre Noten. Zugute kam ihr, dass ihre Eltern sie nach der sechsten Klasse für ein Jahr von der Schule nahmen und in ein Lernstudio schickten. Dort, wie auch in der katholischen Sekundarschule, die sie danach besuchte, herrschten strenge Regeln und klare Strukturen.
ADHS-Patienten haben häufig Probleme, sich selbst zu organisieren, und können ohne Druck kaum etwas zu Ende bringen. Regula G. kam das pädagogische Korsett entgegen. So schaffte sie die Schule, und danach auch das Diplom als Hotelfachassistentin.
Heute führt sie mit ihrem Bruder in der vierten Generation einen Gastronomiebetrieb. «Ich bin ruhiger geworden», sagt sie. Sie könne nach einem Ausraster auch mal reagieren und sich entschuldigen. Methylphenidat versteht auch sie nicht als Wundermittel, sondern «als Starthilfe, um überhaupt vernünftig funktionieren zu können». Ihr Erfolgsrezept lautet vielmehr: «Viel Geduld, therapeutische Hilfe und die Souveränität, auch mal sagen zu dürfen: Ich bin, wie ich bin.»
Die Rogges hingegen (Namen aller Familienmitglieder geändert) sind eben erst dabei, ihr Leben zu ordnen und die Diagnosen der letzten Wochen und Monate zu verdauen. Der Sohn, drei Jahre alt: ADHS. Die Tochter, elf Jahre alt: ADS, also ohne Hyperaktivität. Der Vater, 44 Jahre alt: ADS. Die Mutter, 33 Jahre alt: Verdacht auf ADHS, in Abklärung.
«Das fiese: Sowohl Kinder als auch mein Mann sind nachweislich überdurchschnittlich intelligent.»
Eve Rogge, ADHS-Betroffene
Den Stein ins Rollen gebracht hat der Jüngste: «Kevin war von Geburt an extrem wild. Kaum konnte er stehen, rannte er herum bis zum Umfallen – normal zu laufen musste er erst lernen», erinnert sich seine Mutter, Eve Rogge. Und es wurde immer schlimmer. Mit der Zeit traute sie sich kaum mehr aus dem Haus, weil ihr Sohn fremde Menschen scheinbar aus dem Nichts heraus beschimpfte und wegen Kleinigkeiten einen riesigen Aufstand machte.
«Das Fiese am Ganzen», meint sie nachdenklich: «Sowohl die Kinder als auch mein Mann sind nachweislich überdurchschnittlich intelligent.» Nur steckt mehr in ihnen, als aufgrund ihrer Aufmerksamkeitsstörung herauskommt.
«Es tut weh, wenn ich meinen Sohn so sehe. Denn ich weiss, was in ihm vorgeht», sagt Vater Edwin Rogge. Er selber war als Kind zwar nicht hyperaktiv, dafür das krasse Gegenteil: «Manchmal habe ich stundenlang in einer Ecke gesessen und einfach nichts gemacht.» Fachleute reden hier von Hypoaktivität. Er sei der typische Alles-in-sich-hinein-Fresser gewesen. Ein Aussenseiter. Unfähig, Kontakte zu knüpfen.
Um zu funktionieren, brauchte er klare Tagesstrukturen: «Und so habe ich fast Tag und Nacht gearbeitet.» Als Ventil diente Rogge der Alkohol. «Ich begann mit 14 Jahren regelmässig zu trinken. Und wenn ich trank, dann bis zum Umfallen.» Doch betrunken war er wie ein umgedrehter Handschuh: rücksichtslos, aggressiv, kriminell. «Ich hatte jedes Wochenende Schlägereien und mit der Zeit einiges auf dem Kerbholz», erinnert er sich. Nur mit Glück kam er bis heute mit Bewährungsstrafen und Bussen davon. Nach dem Rausch folgte jeweils der Kater: Depressionen, Selbstverstümmelungen . Ein Teufelskreis.
Die Tendenz zu Drogensucht und Kriminalität ist bei erwachsenen ADHS-Betroffenen ein bekanntes Phänomen. Konkrete Zahlen über die Häufigkeit von ADHS bei Strafgefangenen gibt es aber nicht, höchstens vage Schätzungen. Unter den Insassen in den Gefängnissen des Kantons Zürich sind es nur eine Handvoll Betroffene. Es ist oft schwer festzustellen, ob bei Straftätern tatsächlich ADHS vorliegt oder eine andere Persönlichkeitsstörung. Auch dissoziale oder narzisstische Menschen können impulsiv und ohne Rücksicht auf die Folgen reagieren. ADHS allein erklärt noch keine Straffälligkeit.
Auch für Edwin Rogge ist ADHS keine «billige Entschuldigung» für seine Vergangenheit. Dennoch stimme ihn traurig, dass er erst jetzt eine Erklärung habe für Dinge, die für ihn und sein Umfeld so lange unerklärlich waren. Vor gut einem Monat hat Rogge mit einer Therapie begonnen. Seit drei Wochen nimmt er Methylphenidat, nachdem die Familie bei beiden Kindern positive Erfahrungen damit gemacht hatte. «Wir hatten anfänglich Angst vor Ritalin. Wir wollten keine ferngesteuerten Kinder», sagt Eve Rogge.
Doch die Angst sei unbegründet gewesen: «Es sind noch die gleichen Kinder. Aber heute können sie ihr Potential besser abrufen, das ADHS stellt ihnen nicht ständig ein Bein.» Edwin Rogge glaubt ebenfalls, eine Verbesserung zu spüren: «Ich fange nicht mehr hundert Dinge an, ohne sie zu beenden.» Seine Frau wundert sich vor allem über die plötzliche Eigeninitiative ihres Mannes: «Vergangenes Wochenende hat er Staub gesaugt», sagt sie und lacht, «das hat er noch nie gemacht.» Ihr Mann schmunzelt: «Immerhin – ist doch schon mal ein Anfang.»
- ADHS zeigt sich in Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit sowie Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen.
- Motorische Hyperaktivität zeigt sich in innerer Unruhe sowie der Unfähigkeit, sich zu entspannen oder sitzende Tätigkeiten durchzuhalten.
Weitere Symptome
- Schnelle Stimmungsschwankungen, schnell gelangweilt.
- Organisationsschwierigkeiten, Verlegen oder Vergessen von Dingen.
- Reizbarkeit auch aus geringfügigem Anlass, verminderte Frustrationstoleranz, Wutausbrüche.
- Impulsivität, Dreinreden, Ungeduld, unüberlegtes Geldausgeben.
- Emotionale Übererregbarkeit, übertriebene oder ängstliche Reaktionen auf alltägliche Stressfaktoren.
Kriterien nach Paul Wender