Doppelt so viele Präventionskurse für Firmen
Die Auswirkungen der «MeToo»-Bewegung zeigen sich auch in der Schweiz. Besonders Weiterbildungen für Unternehmen haben Hochkonjunktur.
Veröffentlicht am 17. Januar 2019 - 15:14 Uhr,
aktualisiert am 16. Januar 2019 - 21:47 Uhr
Im Herbst 2017 erschütterten zahlreiche spektakuläre Skandale die Unterhaltungsindustrie der USA. Eine weltweite Debatte über sexistische Anmache, sexuelle Belästigung bis hin zu sexueller Gewalt folgte und zog immer weitere Kreise. Auch in der Schweiz.
Konkrete Auswirkungen davon zeigen sich zum Beispiel bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Im Jahr nach «MeToo» gab es eine stark erhöhte Nachfrage nach Weiterbildungen für Firmen – die Expertinnen und Experten der Fachstelle führten doppelt so viele Kurse durch wie noch im Jahr zuvor.
Welche Branchen ihre Leute besonders häufig in die Weiterbildung schicken und wieso nachgestellte Szenen nützlicher sind als Merkblätter, erzählt Anja Derungs, Leiterin der Fachstelle, im Interview.
Beobachter: Spüren Sie die Auswirkungen der gesellschaftlichen Debatte in Ihrer Arbeit?
Anja Derungs: Das Thema ist definitiv präsenter. Ich glaube, es ist nach wie vor ein Tabu, Fälle von sexueller und sexistischer Belästigung öffentlich zu machen. Diskriminierung ist immer noch mit Scham und Angst verbunden. Wer sich zur Wehr setzt, fürchtet möglicherweise Nachteile, eine Kündigung oder andere negative Folgen. Aber es wurde eine wichtige Debatte lanciert. Das grosse Interesse an unseren Weiterbildungen zeigt, dass sich immer mehr Unternehmen ihrer Präventionspflicht bewusst sind, sich dem Dialog stellen und für eine gute Betriebskultur Pflöcke einschlagen.
Wieso ist das Interesse an diesen Kursen so stark gestiegen?
Das ist eindeutig eine Folge der «MeToo»-Debatte. Bei Führungspersonen ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass es ein Gleichstellungsgesetz
gibt, dass alle Unternehmen zur Prävention und zur Intervention verpflichtet und sie als Vorgesetzte Vorbilder sind. Ihre Rolle ist sehr zentral und deshalb ist es umso wichtiger, dass sie sich Beratung und Unterstützung holen. Die mediale Auseinandersetzung hat sichtbar gemacht, dass das Thema uns alle betrifft.
Wie sehen solche Kurse zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
aus?
Einerseits werden die rechtlichen Aspekte vermittelt und die Strukturen analysiert. Wissen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel, an wen sie sich wenden können, intern und extern? Andererseits arbeiten wir mit szenischen Darstellungen. Dabei spielen Schauspielerinnen und Schauspieler bestimmte Szenen aus dem Berufsalltag nach und die Kursteilnehmenden werden aktiv einbezogen. Wir schauen an, wie sich Grenzüberschreitungen aufbauen können, welche Aufgaben Führungskräfte haben, wie Gespräche geführt werden können, wann externe Abklärungen nötig sind. Häufig beginnen Negativspiralen mit einzelnen Sprüchen und Situationen, die die betroffene Person in eine immer schlimmer werdende Lage bringen. Anhand dieser interaktiven Szenen wird dann deutlich, dass sexuelle und sexistische Belästigungen nicht bagatellisiert werden dürfen und Gespräche, Abklärungen und der Schutz von Betroffenen notwendig sind.
Wie kommen solche nachgestellten Szenen bei den Teilnehmenden an?
Wenige exponieren sich gerne. Deshalb sind interaktive Trainings auch immer eine Herausforderung. Aber sie finden in einem geschützten und vertraulichen Rahmen statt. Unterdessen sind wir überzeugt, dass Teilnehmende sich anhand von konkreten Beispielen später besser daran erinnern können. Merkblätter und schriftliche Informationen sind wichtig, aber wenn man die Abläufe und Strukturen in der Übung erlebt hat, merkt man sich diese eher und erkennt sie im Alltag schneller.
Was beschäftigt die Teilnehmenden am meisten?
Sehr oft sind die Fragen nicht besonders konkret, weil es immer noch ein Tabuthema ist. Häufig gefragt wird: Dürfen wir am Arbeitsplatz noch flirten? Wann ist es eine Grenzüberschreitung? Haben wir eine respektvolle Gesprächskultur? Muss ich als Chefin oder Chef sofort intervenieren oder kann ich abwarten, bis sich die Wogen von allein geglättet haben?
Auch Bagatellisierungen sind ein Thema. Zum Beispiel: «Frauen sind doch selber schuld» oder «er hat das provoziert». Solche Themen lassen sich dann auch in spielerischen Szenen analysieren und diskutieren. Letztlich geht es auch immer um Macht- und Hierarchiefragen und um Privilegien.
Ist das Publikum anders als vor «MeToo»?
Vorher führten wir mehr Weiterbildungen für Einzelpersonen durch. Heute eher für ganze Institutionen oder das gesamte Kader eines Unternehmens. Wir haben gemerkt, dass es mehr Sinn macht, wenn das gesamte Kader sensibilisiert ist. Sonst wird die Aufgabe, sexueller und sexistischer Belästigung vorzubeugen und bei Vorkommnissen richtig zu reagieren, an eine Einzelperson delegiert. Aber die Verantwortung müssen alle übernehmen.
Welche Branchen interessieren sich besonders für die Kurse?
In den vergangenen Jahren waren es meist Gesundheitseinrichtungen, für die wir Weiterbildungen durchgeführt haben. Mittlerweile kommen die Anfragen aus allen Bereichen, wie zum Beispiel aus der Finanzwelt, dem Dienstleistungsbereich und von Medienhäusern.
Nehmen nur Kaderleute an ihren Kursen teil?
Nein, durchaus auch die ganze Belegschaft. Wir sorgen bei Gruppen mit unterschiedlichen Hierarchien dann in den interaktiven Übungen dafür, dass die verschiedenen Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar zum Ausdruck kommen oder auch einmal Rollen getauscht werden dürfen, wenn das sinnvoll ist. Die Themen sind bei Hierarchie-gemischten Gruppen anders: Oft geht es dort auch um konkrete Frage der Zusammenarbeit
und der Kommunikation, Fragen aus dem Betriebsalltag. Was machen wir für Witze und Sprüche? Wie schreiben wir E-Mails? Wann machen wir Komplimente und wie gehen wir miteinander um? Es ist abhängig davon, wie offen die Gesprächskultur ist, gerade auch wenn Vorgesetzte dabei sind. Wenn Führungskräfte unter sich in die Weiterbildung kommen, kommen eher Beispiele aus deren Alltag zum Zug und Abläufe und Rechtliches steht stärker im Vordergrund.
Kommen Firmen zu Ihnen, die selber intern mit sexueller Belästigung konfrontiert waren?
Bei konkreten Fällen gelangen Firmen an uns als Beratungsstelle. Dann geht es in erster Linie um diese. Weiterbildungen können im Nachgang von Vorfällen sinnvoll sein. Unternehmen nehmen diese nicht selten zum Anlass, ihre Präventionsarbeit aufzubauen oder Massnahmen zu verstärken. Dann ist die Weiterbildung darauf auszurichten und auf die Firma abzustimmen. Ich gehe davon aus, dass es in vielen Unternehmen schon Fälle von sexueller und sexistischer Belästigung gab. In letzter Zeit erhalten wir vorwiegend Anfragen für präventive Weiterbildungen. Niemand – auch ich auf der Fachstelle für Gleichstellung – kann mit absoluter Sicherheit behaupten, dass so etwas am Arbeitsplatz nie passieren könnte.
Hat die gesellschaftliche Debatte zu einer echten Sensibilisierung geführt oder fürchtet man sich heute einfach vor Skandalen?
Ich behaupte das Bewusstsein für präventive Massnahmen am Arbeitsplatz ist deutlich gewachsen. Es ist wohl ein bisschen von beidem. Aber letztendlich spielt das keine Rolle: Wichtig ist, dass sexuelle und sexistische Belästigungen gestoppt werden.
Infos für Arbeitnehmer:
- Auf belaestigt.ch erhalten Betroffene von sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz eine kostenlose Online-Erstberatung sowie Tipps und Infos. Dort finden sich auch die Anlaufstellen nach Kantonen aufgelistet, die beratend bei einem Verfahren zur Seite stehen.
- Sollte sich betriebsintern keine Lösung mit dem Arbeitgeber finden lassen, bleibt nur der Rechtsweg mittels Eingabe an die Schlichtungsbehörde.
- Wer sich entschliesst, rechtliche Schritte einzuleiten, sollte ein gutes Dossier mit möglichst vielen Nachweisen (Briefe, E-Mails, Protokolle, Liste von allfälligen Zeugen) zusammenstellen, damit die Belästigung bewiesen werden kann.
- Der Anspruch ist erst nach zehn Jahren verjährt. Es ist irrelevant, ob das Arbeitsverhältnis noch andauert oder bereits beendet wurde.
- Betroffene haben zudem die Möglichkeit, innert drei Monaten bei der Polizei einen Strafantrag gegen die Person einzureichen
, von der die sexuelle Belästigung ausgeht. Da die Beweisanforderungen im
Strafverfahren höher sind und nur weitreichende Übergriffe strafrechtlich relevant sind, ist die Erfolgschance geringer. Allenfalls müssen Betroffene mit einer Ehrverletzungsklage rechnen.
Infos für Arbeitgeber:
- Auf belaestigt.ch finden auch Arbeitgebende Informationen zu ihren Pflichten sowie Antworten auf die häufigsten Fragen von Seiten der Arbeitgebenden im Zusammenhang mit sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz.
- Das Präventionsangebot «KMU konkret+» steht für KMU ab 2021 zur Verfügung. Es kann auf den Kontext eines spezifischen Unternehmens zugeschnitten werden. Es hat zum Ziel, einen Beitrag zur belästigungsfreien Betriebskultur zu leisten. Es werden sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende angesprochen. Zudem kann ein firmeninterner Leitfaden entwickelt werden.
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