Beobachter: Gustav Dobos, Sie werden in Essen ein Zentrum für Naturheilkunde und integrative Medizin aufbauen. Braucht es eine Alternative zur Schulmedizin?
Gustav Dobos
Es braucht keine Alternative, sondern eine sinnvolle Ergänzung. Wenn man Therapien aus dem Bereich der Naturheilkunde anwendet, muss man wissen, mit welchen schulmedizinischen Verfahren man diese sinnvollerweise kombiniert und welche davon man reduzieren kann. Als integrative Medizin helfen beide Richtungen gemeinsam am besten, denn natürlich gibt es Situationen, in denen wir starke Medikamente benötigen, etwa in der Krebstherapie.

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Was spricht für die Komplementärmedizin?
Die sogenannte Schulmedizin ist oft nicht nachhaltig. Sie ist zu stark auf Krankheiten ausgerichtet, sie arbeitet überwiegend mit Medikamenten, die häufig unerwünschte Nebenwirkungen produzieren. Die Naturheilkunde dagegen aktiviert die Selbstheilungsmechanismen des Körpers. 


Bei welchen Leiden kann die Naturheilkunde sinnvollerweise zum Einsatz kommen?
Vor allem bei chronischen Leiden, die den Grossteil der Krankheiten ausmachen. 50 Prozent unserer Patienten hatten chronische Schmerzen. Durchschnittlich sieben Jahre lang haben sie sämtliche schulmedizinischen Methoden versucht – ohne anhaltenden Therapieerfolg. Die Patienten mit chronischen Schmerzen sprechen auf schulmedizinische Verfahren nicht respektive nicht mehr an. Oder sie sind abhängig von Opiaten Gefangen zwischen Schmerzen und Schmerzmitteln «Ich schluckte mehr als zehn Jahre lang verschiedenste Opioide» oder vertragen sie nicht. Rückenschmerzen sind ein gutes Beispiel. Oft finden wir dafür keine physische Ursache. 

«Der häufigste Grund für Rückenschmerzen ist eine ­gewisse Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz.»

Gustav Jürgen Dobos, Professor für Naturheilkunde

Mit welchen Erfahrungen kommen Patienten zu Ihnen?
Für viele Ärzte ist Schmerz ein Schmerzmittelmangelsyndrom. Die Patienten bekommen so hohe Dosen, bis der Schmerz nicht mehr wahrnehmbar ist. Doch dabei wird auch das Empfinden für andere Menschen, selbst die Fähigkeit, zu lieben, reduziert. Das hat einschneidende Wirkungen für den Menschen. 


Wie ist Ihr Ansatz?
Am Anfang steht die ganz normale Diagnostik, also zunächst eine gründliche körperliche Untersuchung und eventuell Röntgen- oder MRT-Bilder. Dann behandeln wir individuell, mit Schwerpunkt auf Naturheilkunde und Mind-Body-Medizin, will heissen, wir betrachten Körper und Geist als Einheit. Ein Körperteil mag wehtun, aber der Schmerz wird immer im Gehirn wahrgenommen. Wir gehen den Schmerz von beiden Richtungen an. Dann folgt, je nach individuellem Fall, eine psychotherapeutische Intervention. Der häufigste Grund für Rückenschmerzen Rückenbeschwerden Der richtige Umgang mit Rückenschmerzen etwa ist eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz. Da geht es um Bewusstwerdung der eigenen Lebenssituation mittels Coaching. Ausserdem verwenden wir spezielle Massagetechniken und Yoga. Das hat die beste Evidenz zur Behandlung von chronischem Rückenschmerz überhaupt, wie eine Metaanalyse der Organisation Cochrane zeigt. 


Cochrane ist für die unabhängige Bewertung medizinischer Verfahren bekannt. Allerdings findet die gleiche Institution für die Wirksamkeit der Akupunktur gegen Rückenschmerzen keine Evidenz.
Man muss die Akupunktur differenziert betrachten. Eine Scheinbehandlung war bei einigen Arten von Schmerz genauso effektiv wie eine echte Akupunktur. Das heisst, es war nicht wichtig, wo die Nadeln gesetzt wurden, aber die Scheinbehandlung war immerhin meistens besser als keine Behandlung. Mittlerweile gibt es auch Studien, die zeigen, dass Akupunktur bei Migräne, Polyneuropathie sowie Fatigue bei Krebspatienten wirksam ist.


Welche Verfahren der Naturheilkunde sind überhaupt evidenzbasiert?
Yoga im Bereich chronischer Rückenschmerzen und Depressionen. Auch Meditation ist klar wirksam bei Schmerzen und Menopausebeschwerden Prämenopause Wenn die Regel zur Ausnahme wird . Ausserdem gibt es einzelne Phytotherapeutika mit guter Evidenz, gerade gegen Schmerzen: Brennnesselextrakt, Teufelskralle und Phytodolor – eine Kombination aus unterschiedlichen Pflanzenauszügen. 

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Bei der Homöopathie hingegen, einem der bekanntesten komplementärmedizinischen Verfahren, sagen alle seriösen Studien, ihre Wirkung sei nicht grösser als der Placeboeffekt. Hat sie trotzdem eine Daseinsberechtigung?
Die Studien haben ergeben, dass nicht die homöopathischen Präparate, sondern das Setting der Homöopathie, also vor allem der intensive Arzt-Patienten-Kontakt, das eigentlich Wirksame bei der Therapie ist. Laut den neuen Leitlinien für komplementäre Medizin in der Krebstherapie etwa kann Homöopathie als begleitende Therapie zur Behandlung von Nebenwirkungen der Chemotherapie eingesetzt werden. Denn angenommen, sie wäre eine Placebotherapie, ist es erstens wichtig, dass die Patienten davon überzeugt sind, und zweitens, dass sie keine Nebenwirkungen hat. Da das bei der Homöopathie der Fall ist, spricht für mich nichts dagegen, sie einzusetzen. 


Wie oft behandeln Sie mit homöopathischen Mitteln?
Eher selten. Bei Schlafstörungen, zum Beispiel. Bryophyllum ist ein Präparat, das beruhigend wirkt – allerdings nicht in den sehr hohen Verdünnungen, die in der klassischen Homöopathie üblich sind. Bevor wir ein schweres Schlafmittel geben, versuchen wir es in diesen Fällen erst einmal damit. 


Ist es ethisch korrekt, wenn Mediziner eine Pille ausgeben, von der sie wissen, dass sie nicht wirkt?
Dieses Problem kann man lösen, indem wir den Patienten aufklären, dass das Präparat eventuell keine grössere Wirkung hat als ein Placebo. Studien haben gezeigt, dass die vermeintliche Placebowirkung dann trotzdem vorhanden ist. 

«Pflanzliche Präparate sind in der Schmerztherapie schwächer als Opiate, aber besser verträglich.»

Gustav Jürgen Dobos, Professor für Naturheilkunde

Viele Eltern verabreichen ihren Kindern homöopathische Kügelchen. Ist es nicht eine falsche Konditionierung, wenn man ihnen schon für das kleinste Wehwehchen eine Pille gibt?
Wenn Sie einem Kind bei Wehwehchen keine Präparate geben, müssen Sie eben die Zeit haben, sich mit ihm zu beschäftigen – sicherlich die beste Methode. Anderseits bekommen Kinder sehr oft Antibiotika verschrieben. In 90 Prozent der Fälle sind es die falschen, oder sie sind unnötig, denn die meisten Infekte werden von Viren verursacht, gegen die die Antibiotika sowieso nicht wirken. Ein homöopathisches Präparat oder ein pflanzliches, weniger starkes Medikament ist bei einer Erkältung bestimmt besser als ein Antibiotikum.

 


Wie definieren Sie stark?
Damit beziehe ich mich vor allem auf die potenziellen Nebenwirkungen. Wenn Kinder zweimal im Jahr Antibiotika bekommen, entwickeln sie resistente Bakterien. Viele leiden zudem unter Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall und Hautausschlag. Ich bevorzuge bei leichten Erkrankungen pflanzliche Arzneimittel, die die Selbstheilungskräfte nicht unterdrücken.


Aber nur weil Arzneimittel aus Pflanzen hergestellt werden, müssen sie nicht ungefährlich sein. Das Gift der Tollkirsche etwa kann tödlich sein, und ein Bestandteil des Roten Fingerhuts wird als Herzmedikament eingesetzt. 
Als Medikamente aufgearbeitet, sind diese Pflanzeninhaltsstoffe stärker wirksam als die Pflanze selbst – und damit auch besser dosierbar. Aber bei pflanzlichen Präparaten handelt es sich nicht um einen einzelnen Wirkstoff. Darin sind immer unterschiedliche Substanzen enthalten, deren Wirkungen sich gegenseitig verstärken. Pflanzliche Präparate sind gerade im Bereich der Schmerztherapie schwächer als ein Opiat, vergleichbar mit einem niedrig dosierten Rheumamittel, aber besser verträglich. Einer von 1200 Patienten, der über zwei Monate hoch dosiert Ibuprofen oder Diclofenac nimmt, stirbt – das passiert bei pflanzlichen Präparaten nicht.

«Das Leben ist wie ein Flug, und irgendwann reisst jemand die Tür auf und schmeisst Sie raus. Wenn Sie dann erst anfangen, einen Fallschirm zu weben, ist es zu spät.»

Gustav Jürgen Dobos, Professor für Naturheilkunde

Wie kann der Geist zur Heilung körperlicher Symptome beitragen?
Ich erzähle gern die Geschichte einer cholerischen Patientin, die eine Autoimmunerkrankung hatte. Jedes Mal, wenn sie besonders ausser sich war, bekam sie einen Krankheitsschub. Bei uns machte sie dann das achtwöchige Achtsamkeitsmeditationsprogramm MBSR . Sie wurde ruhiger, hatte weniger körperliche Beschwerden. Doch damit nicht genug: Nach sechs Kurswochen wurde ihr Portemonnaie gestohlen – eine Situation, in der sie sonst völlig ausgerastet wäre. Jetzt aber ist sie nach Hause gefahren, hat ihre Karten sperren lassen und die Polizei informiert. Dann hat sie ihren Mann angerufen, ihm gesagt, dass sie alles geregelt habe, er sich nicht kümmern brauche und sie sich am Abend wie geplant zum Essen sehen würden. Eine halbe Stunde später stand der Mann vor der Tür, weil er Angst hatte, dass seine Frau übergeschnappt sei. Weil er sie in so einer Situation noch nie so ruhig erlebt hatte. 


Meditation hilft Körper und Seele also gleichermassen?
Das Leben ist wie ein Flug, und irgendwann reisst jemand die Tür auf und schmeisst Sie raus. Sie sind gefordert, weil sich in Ihrem Umfeld etwas verändert oder weil Sie selbst mit einer Krankheit umgehen müssen. Wenn Sie dann erst anfangen, einen Fallschirm zu weben, ist es zu spät. Doch wenn Sie den Fallschirm schon bereithaben, landen Sie sanft.

Zur Person

Gustav Jürgen Dobos, Professor für Naturheilkunde

Gustav Jürgen Dobos, 66, ist Professor für Naturheilkunde an der Universität Duisburg-Essen (D). Er war elf Jahre lang Direktor der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Sein Buch «Die gestresste Seele – Naturheilkunde für Körper und Gefühle» (Scorpio-Verlag, 2020) wurde in Deutschland zum Bestseller.

Quelle: Privat
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