Ich messe, also bin ich
Wer will, kann fast alles über sich wissen. Die Frage ist: Will ich das?
aktualisiert am 8. Mai 2018 - 13:38 Uhr
Und was genau war hier los?» Anita Kunz, die mein Self-Hacking-Experiment betreut, deutet mit dem Laserpointer an die Wand. Dort abgebildet ist mein 24-Stunden-EKG. Die Daten hat meine Pulsuhr geliefert .
Einen ganzen Tag lang habe ich akribisch dokumentiert, was ich getan habe. 4.30 Uhr aufwachen, 5.15 Uhr ins Auto steigen, 5.45 bis 8 Uhr Training im Gym. Dann Arbeiten auf der Redaktion, über Mittag ein Treffen mit einer Schulfreundin, Büroarbeit. Anschliessend Autofahrt, Bandprobe, Heimfahrt.
Und dann das. Zwischen 22.50 und 22.56 Uhr sackt mein Puls ab. Von relativ entspannten 68 Schlägen pro Minute auf 48. Die Trainerin stellt Fragen. Aber ich habe keine Antworten. Um 22.50 Uhr war ich zu Hause, aber noch nicht im Bett. Da dämmert es mir: Ich war zur Tür hereingekommen, und wie immer empfingen mich meine zwei Katzen . Wie immer warfen sie sich auf den Rücken, ich setzte mich auf den Boden und streichelte sie. Ein paar Minuten lang. Sechs, um genau zu sein.
Jane und Ginny als natürliches Entspannungsmittel? Ich habe schon oft gehört, dass Katzen der Seele guttun. Bisher habe ich das für übergspüriges Geschwätz gehalten. Aber offenbar ist was dran. Das belegt mein EKG jetzt bunt und riesig auf der weissen Wand.
War es das, was ich herausfinden wollte? Ich habe mein bisheriges Leben ohne jegliche Selbstüberwachung oder -vermessung über die Runden gebracht, Pulsuhren, Schrittzähler und Fitness-Tracker mit einem mitleidigen Lächeln quittiert. Totalcheck beim Arzt? Ich merke doch, wenn etwas nicht stimmt. Ich habe es jahrzehntelang mit dem Motto meines Hausarztes gehalten, der neben europäischer auch chinesische Medizin studiert hatte: «Wenn wir lange genug suchen, finden wir sicher irgendetwas. Aber sagen Sie, geht es Ihnen gut?»
Ja, habe ich ihm und mir immer geantwortet. Ich hatte unglaubliches Glück. Von einem angerissenen Band und einem gebrochenen Fuss abgesehen hatte ich nie ernsthafte Beschwerden. Rückenweh kenne ich nicht, und auch der innere Schweinehund , der so viele Leute vom Sport abhält, ist mir noch nie begegnet. Ich freue mich schon am Abend auf meinen Morgenlauf.
In der Nacht vor meinem Self-Hacking-Experiment aber schlief ich schlecht. Mir kam mein Arzt in den Sinn: Würde ich so lange suchen, bis etwas zum Vorschein käme, was ich gar nicht wissen will? Diabetesindizien, Infarkt- oder Burn-out-Risiken?
Ich überlegte nicht nur, wie ich mit so einer Entdeckung umgehen könnte. Ich überlegte auch, wie sicher die Daten sind, die da erhoben werden – gefundenes Fressen für die Krankenkassen , die ihre Parameter gleich reihenweise und ohne jegliche Spekulation oder Hochrechnerei füttern können, sollten meine Ergebnisse in ihre Hände geraten.
Ich dachte an die Kolleginnen und Bekannten, die ihre Lauf-Apps auf Facebook veröffentlichen: Soundso ist mit Runtastic soundso viele Kilometer gelaufen. Weniger Infarktrisiko, weniger Übergewicht, dafür potenzielle Hüftschäden? Ein Meniskus statt Burn-out? Wie wirken sich solche Zahlen wohl auf die Krankenkassenprämien aus?
«Unsere Server stehen in Österreich und sind supersicher», sagt Trainerin Anita Kunz zu Beginn unseres Gesprächs. Danach gibts Good News: Infarkt- und Diabetesrisiko? Weit unter meinem Altersdurchschnitt. Burn-out-Risiko? Sozusagen nicht vorhanden. Ich merke, wie etwas in mir aufatmet. Doch dann kommen schon die nächsten Fragen: Soll ich das zum Beispiel meinem Arbeitgeber erzählen? Oder nicht?
Ich weiss, dass in Sachen Gesundheit nur Statistiken existieren und keine Einzelfälle. Und ich weiss, dass Umkehrschlüsse nicht gelten. Will heissen: Tägliches Joggen reduziert zwar statistisch gesehen eine Reihe Risiken, ist aber keine Garantie gegen irgendwas Fieses. Nicht jeder Jogger wird gesund alt. Und nicht jeder gesunde Alte war früher mal Jogger. Aber zum Glück muss ich mir darüber im Moment nicht den Kopf zerbrechen.
Was mich weit mehr umtreibt: Ich trage jetzt eine Pulsuhr. Und schaue inzwischen fast so oft auf die Statistiken, die sie an mein Handy übermittelt, wie in die Mailbox. Ich habe angefangen, Spiele mit mir selber zu spielen: Bis zur Mittagspause möchte ich 1500 Kalorien verbraucht haben. Ich möchte es heute auf mindestens 150 aktive Minuten bringen. Ich will mindestens 30000 Schritte machen.
Ich weiss: Solche Spielereien sind etwas für Leute, die keine wirklichen Sorgen oder Probleme haben. Die es spannend oder lustig oder beides finden, mehr darüber zu erfahren, wie ihr Körper funktioniert. Wie komme ich schneller von der Fettverbrennungs- in die Kardiozone , mit Joggen oder auf der Rudermaschine? Wie muss ich mich ernähren, damit möglichst viel Fett verbrannt wird, aber keine Muskelmasse? Wie lange kann ich mit leerem Magen laufen oder auf «Höchstleistung» trainieren? Und was passiert beim Schwimmen?
Anita Kunz hat versucht, mich ein wenig zu optimieren: Ich sei, findet sie, «recht gemütlich unterwegs» beim Laufen (wie recht sie hat!). Ich solle ein bisschen Intervalltraining machen. Fahrtspiel. Dreissig Sekunden Vollgas, drei Minuten traben. Und möglichst wenig Kohlenhydrate essen.
«Nach dem Intervalltraining staune ich nicht schlecht.»
Susanne Loacker
Ein paar Tage lang gehorche ich. Und noch ein paar Tage mehr. Dann mache ich an einem Samstagmorgen meine übliche 38-Kilometer-Runde. Gemütlich, wie immer. Als ich trotzdem fast eine Viertelstunde schneller als normal wieder daheim bin, staune ich nicht schlecht.
Vier Tage lang esse ich versuchsweise gar nichts . Es gibt Bouillon wegen des Salzhaushalts und Vitamintabletten. Nie hätte ich gedacht, dass das so leicht geht. Die Trainerin misst meine Blutwerte. Ketose, Fettverbrennung auf Hochtouren. Und das, obwohl ich nichts mehr liebe als süsse exotische Früchte zum Frühstück und Lindor-Kugeln zu jeder Tageszeit. Inzwischen sind sie wieder Teil meines Lebens, wenn auch in weit geringerer Kadenz.
Alles in allem hat mich meine Selbstvermessung also angespornt, ganz nach dem Motto: Alles gut, jetzt noch ein bisschen besser. Doch wie gehen Leute mit schlechten Prognosen um? «Viele wollen es überhaupt nicht wahrhaben und erfinden immer neue Ausreden und Vorwände, weshalb sie ihr Leben gerade überhaupt nicht ändern können», sagt Kunz. Oft seien es die Partnerinnen von Burn-out- oder Infarkt-gefährdeten Managern, die sich dann informierten und versuchten, den Lebensstil ihres Partners zu optimieren.
«Man muss nicht alles wissen.»
Jörg Wetzel, Sportpsychologe
Diese Erfahrung macht auch der Sportpsychologe Jörg Wetzel, der seit vielen Jahren Spitzensportler berät und auch für das Bundesamt für Sport und für Swiss Olympic arbeitet. «Frauen zeigen oft das, was im Fachjargon Wächtertendenz heisst. Männer gehen weniger gern zum Arzt, Frauen schauen sich in der Regel besser. Sie können auch besser Hilfe annehmen.»
Das Wissen um den eigenen körperlichen Zustand ist für Wetzel allerdings ein zweischneidiges Schwert. «Man muss nicht alles wissen», sagt der Sportpsychologe. Eigentlich genüge es, wenn man sich wohl und gesund fühle. Aber in der heutigen materialistischen Welt müsse man halt alles erklären, erfassen, begreifen. «Wir haben so viele Daten, dass wir gar nicht mehr wissen, was wir damit machen sollen.»
Was sind das denn für Leute, die sich selber vermessen und alles über ihren Körper wissen möchten? Sportpsychologe Wetzel macht zwei Typen von Menschen aus. Zum einen den Typ, der eher unkritisch unterwegs ist und gern die Kontrolle über sowie die Verantwortung für die eigene Gesundheit abgibt. Zum anderen den Typ, der sowieso schon fit und gesund ist und alles daransetzt, diesen Zustand zu erhalten und zu optimieren.
Also ist Vermessen und Überwachen nicht immer nur gut. Wetzel formuliert vorsichtig: «Wenn jemand sowieso schon ein hohes Krankheitsbewusstsein hat, ist eine solche Überwachung eher schädlich als nützlich.» Anders gesagt: Wer sich schon erkältet, wenn er ein offenes Fenster sieht, lebt wohl glücklicher, wenn er weder sein Diabetes- noch sein Infarktrisiko kennt.
Und was habe ich nun bei meinem Self-Hacking-Experiment gelernt? Zur Hypochondrie neige ich zum Glück nicht. Glaube ich wenigstens. Ausserdem weiss ich jetzt, dass mein Diabetes- und mein Infarktrisiko vernachlässigbar sind.
Ich weiss, dass süsse Früchte zwar viele Vitamine enthalten, aber auch viel Zucker, der mich müde macht. Und dass es absolut kein Problem ist, mal einen Tag oder zwei einfach gar nichts zu essen. Und weil ich jetzt sogar eine Pulsuhr besitze, kenne ich auch meinen Ruhepuls. Und den Einfluss, den meine beiden Büsi auf ihn haben.
Allerdings kann es vorkommen, dass ich vergesse, meine Pulsuhr zu montieren, wenn ich am Morgen zum Joggen aufbreche. Blöd, dann weiss ich gar nicht, wie viele Kalorien ich verbraucht habe. Das ärgert mich zwar ein kleines bisschen, aber deswegen kehre ich doch nicht um.
1 Kommentar