So schafft man es, dass sich die Muskeln nicht zurückbilden
Die Kraft lässt bereits ab Mitte 20 nach. Lange unmerklich, im Alter dann immer schneller. Um den Muskelschwund aufzuhalten, braucht der Körper Bewegung, Training – und die richtige Ernährung.
Veröffentlicht am 17. August 2022 - 17:39 Uhr
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an!» So sang einst Udo Jürgens. Der Schlagersänger mag insofern recht gehabt haben, als das Rentenalter neue Freiheiten bietet.
Biologisch gesehen jedoch geht es mit uns allen schon ab Mitte 20 bergab. «Wir erreichen mit etwa 25 Jahren unsere Spitzenmuskelmasse», sagt Heike Bischoff-Ferrari, Direktorin der Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital Zürich und Chefärztin der Universitären Klinik für Altersmedizin am Stadtspital Zürich Waid. Danach werden wir Jahr für Jahr etwas schwächer. Zuerst kaum merklich, ab 50 immer schneller. Bis zum 80. Lebensjahr beträgt der Verlust der Muskelmasse etwa 40 Prozent.
Das hat Auswirkungen im Alltag. Die Mobilität nimmt ab, die Lebensqualität sinkt, und im Extremfall geht die Selbständigkeit verloren. Zudem übernimmt die Muskulatur zentrale Aufgaben, damit der Körper sich vor Krankheiten schützen kann: Sie speichert Eiweissbausteine, die das Immunsystem zur Abwehr von Infekten benötigt. Und sie hilft bei der Zuckersäuberung im Körper und schützt so vor Diabetes und Übergewicht.
Alle zehn Minuten bewegen
Der Muskelabbau ist Teil des Alterungsprozesses – ganz verhindern kann ihn niemand. Aber die gute Nachricht ist: Jeder Mensch kann seine Muskelgesundheit stärken, und zwar in jedem Alter. «Selbst bei Hundertjährigen sind die Muskeln noch trainierbar», sagt Heike Bischoff-Ferrari. Besser ist es natürlich, schon in jüngeren Jahren ein aktives Leben zu führen. Grundsätzlich sind bereits leichte physische Aktivitäten wie Gehen mit enormem Nutzen für die Gesundheit verbunden. «Unabhängig vom Alter empfehlen wir deshalb in der Prävention, 8000 Schritte pro Tag zu machen plus dreimal pro Woche eine sportliche Aktivität auszuüben.»
Besonders wichtig ist es, nicht zu lange am Stück zu sitzen. «Wer sitzende Tätigkeiten ausübt, sollte versuchen, alle zehn Minuten aufzustehen und sich etwas zu bewegen», empfiehlt die Ärztin. Man nenne das «Bewegung naschen», also jede Möglichkeit nutzen, um aktiv zu sein – auch ohne Trainingsanzug.
In den Alltag einbauen sollte man auch etwas Krafttraining . Mit Treppensteigen etwa lässt sich auf einfache Weise die Beinmuskulatur stärken. Ab 50 Jahren wird auch die Kräftigung der Rumpf- und Beckenmuskulatur wichtig. Und es empfiehlt sich, Übungen in ein tägliches Gymnastikprogramm einzubauen, die die Gelenke mobil halten sowie Gleichgewicht und Koordination trainieren.
«Nur wenn Bewegung zur Gewohnheit wird, ist man langfristig erfolgreich.»
Heike Bischoff-Ferrari, Direktorin Klinik für Altersmedizin, Universitätsspital Zürich
Im höheren Alter wird regelmässige Bewegung noch entscheidender. Ohne sie können sich Muskeln erschreckend schnell zurückbilden. Ein eindrückliches Beispiel sind ältere Patientinnen und Patienten, die wegen einer Erkrankung oder Verletzung ins Spital kommen und dort über längere Zeit ans Bett gefesselt sind. «Bereits nach einer Woche im Spitalbett schwindet die Muskelmasse um 10 Prozent, die Muskelkraft gar um 30 Prozent», sagt Heike Bischoff-Ferrari. Gerade bei Hochbetagten ist es sehr schwierig, einen solchen Kraftverlust wettzumachen. Deshalb erhalten Patienten in den Spitalabteilungen für Altersmedizin gleichzeitig mit der Behandlung der akuten Krankheit eine intensive Frührehabilitation.
Eine überdurchschnittliche Abnahme der Muskelgesundheit wird als Sarkopenie bezeichnet. Sie kann zu einem Teufelskreis führen. Zum einen was die Bewegung betrifft: Wer merkt, dass Bewegungen mühsamer werden, bleibt lieber auf dem Sofa sitzen – und verliert dadurch noch mehr Kraft und Beweglichkeit. Zum anderen wird auch die Ernährung beeinflusst. Mit abnehmender Muskelmasse lässt der Appetit nach. Viele ältere Menschen essen zu wenig und bauen deshalb körperlich noch rascher ab. Gerade allein Lebende haben oft wenig Lust zu kochen und greifen zu Fertiggerichten, denen häufig wertvolle Inhaltsstoffe fehlen.
Eiweiss für Muskeln und Knochen
Im Alter sind Eiweisse, die Proteine, besonders wichtig. Ältere Menschen benötigen rund einen Viertel mehr Eiweiss als jüngere, um die Knochenstruktur und die Muskulatur zu erhalten. Weil Eiweisse sehr sättigend sind und das Völlegefühl im Alter stärker verlängern, ist es wichtig, sie gut verteilt über alle Mahlzeiten am Tag einzunehmen. Ansonsten droht ein Mangel.
Für viele ältere Menschen geht es deshalb nicht nur darum, genügende Mengen zu essen, sondern auch das Richtige. Heike Bischoff-Ferrari hat für ihre Patientinnen und Patienten eine Liste mit Lebensmitteln zusammengestellt, die besonders viel und besonders hochwertiges Eiweiss enthalten (siehe Bildergalerie). Die Forscherin leitet eine Studie, an der mehr als 600 Seniorinnen und Senioren über 75 Jahren teilnehmen, die Anzeichen eines überdurchschnittlichen Muskelschwunds zeigen. Dabei geht sie der Frage nach, ob Molke die Muskelkraft verbessern kann.
Molke ist ein Abfallprodukt aus der Käseherstellung und reich an einer essenziellen Aminosäure, dem Leuzin. Dieser Eiweissbestandteil stimuliert den Muskelaufbau offenbar besonders gut. Kleinere Studien hätten allein mit der Gabe von Molkeprotein bei Älteren einen Zuwachs um ein Kilo Muskelmasse nachgewiesen, erzählt Heike Bischoff-Ferrari. «Und das innerhalb von zwei bis sechs Monaten – unabhängig von der Bewegung.» Molkedrinks gebe es auch immer häufiger im Supermarkt zu kaufen.
Mit Training das Sturzrisiko senken
Sich über Bewegung und Ernährung ein muskelfreundliches Verhalten anzueignen, ist nicht immer einfach. Ein oft unterschätztes Thema bei Älteren ist die Befürchtung hinzufallen . «Solche Menschen entwickeln oft Angst davor, das Haus zu verlassen, und bewegen sich immer weniger», sagt Altersforscherin Heike Bischoff-Ferrari. Das ist umso problematischer, als übermässiger Muskelschwund auch dazu führt, dass die Knochen schwächer werden.
Training senkt das Sturzrisiko. Deshalb ist es wichtig, Älteren wieder Sicherheit zu geben. Dazu muss das Kräftigungsprogramm gut geplant sein – unter anderem gilt es, das Seh- und Hörvermögen und das Schuhwerk zu kontrollieren. Und auch die jeweiligen Vorlieben bezüglich Ernährung und Bewegung sollten berücksichtigt werden. Denn es sei wichtig dranzubleiben, sagt Bischoff-Ferrari. «Nur wenn Bewegung zur Gewohnheit wird, ist man langfristig erfolgreich.»
Es lohnt sich für jeden Menschen, in die Muskelkraft zu investieren. Denn sie bildet die Basis, um auch im Alter gesund und aktiv zu bleiben. Und damit ein Leben zu führen, das auch nach der Pensionierung noch viele Möglichkeiten bietet.
Für die Studie unter der Leitung von Heike Bischoff-Ferrari werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesucht. Über 75-Jährige mit Anzeichen von Muskelschwäche melden sich für Infos bei: cornelia.dormann-fritz@zuerich.ch, Telefon 044 417 10 76.
Eiweissreiche Ernährung für den Muskelaufbau
Fisch, Fleisch und Eier enthalten besonders viel Eiweiss. Es gibt auch viele sehr gute pflanzliche Eiweissquellen – etwa Linsen und Nüsse. Um Gebrechlichkeit vorzubeugen, sind pflanzliche Eiweisse womöglich sogar geeigneter. Zumal regelmässiger Konsum von rotem Fleisch das Krebs- und Herz-Kreislauf-Risiko erhöht. Empfohlen werden etwa ein Gramm Eiweiss pro Kilo Körpergewicht und Tag.
Erklärung zur Bildergalerie: Die Angaben zu den Eiweissgehalten sind auf eine Portion von 100 Gramm gerechnet; die Werte können je nach Produkt leicht variieren.
Viele Seniorinnen und Senioren sind auch im Alter noch aktiv. Sei es dadurch, dass sie Freiwilligenarbeit leisten, weiter reduziert arbeiten oder sich um die Erziehung der Enkelkinder kümmern. Erfahren Sie als Mitglied des Beobachters, wie Sie nach dem ordentlichen Pensionierungsalter in Schuss bleiben und welche Möglichkeiten sich für Sie ergeben.