Zweifeln Sie ruhig!
Heute muss man immer gleich wissen, was man will und was richtig ist. Doch die Gesellschaft krankt an den zu sehr Überzeugten. Nur Zweifel bringen uns weiter.
Veröffentlicht am 5. Juli 2019 - 10:09 Uhr
Zweifeln Sie lieber nicht zu laut. Es ist unsexy. Es macht Sie weder für Ihren Arbeitgeber noch für Ihr Date attraktiv. Antworten Sie auf die Frage, ob Sie sich die Aufgabe als Teamleiterin zutrauen, lieber nicht mit «Hmm, da bin ich mir jetzt nicht ganz sicher». Erzählen Sie Ihrer Tinder-Bekanntschaft nicht, dass Sie Zweifel an Ihrer Beziehungsfähigkeit hegen. Wer zweifelt, hat schon verloren. Das zumindest wird uns überall weisgemacht.
«Sieger zweifeln nicht!», heisst eines dieser Millionen von Ratgeberbüchern, die in den letzten Jahren auf den Markt geschwemmt wurden. Heute muss man wissen, wie man ist («kreativ, aktiv, kommunikativ») und was man nicht isst (ungesundes Gluten, krank machende Laktose , böses Fleisch). Wissen, was man will (Geld, Glück, Ganz-viel-Erfolg) und was man kann («eigentlich alles, nur bin ich ein bisschen zu perfektionistisch»), welche Weltsicht die einzig richtige ist (links, rechts, schwarz, weiss), woran man glaubt (an gar nichts, an Yoga, an sich selbst). Wir müssen auf alles eine Antwort haben.
Zweifeln ist nicht angesagt. Wenn ich den Fernseher einschalte, höre ich in der «Arena» Politiker, die alle die Weisheit mit Löffeln gegessen haben und keinen leisen Zweifel an ihren Lösungen für jedes Problem dulden. Und ich sehe Cristiano Ronaldo, dessen Selbstsicherheit noch grösser ist als sein Salär.
Wir wollen von Natur aus nicht zweifeln. Zweifel sind quälend, bohrend, nagend, plagend. Menschen aber streben nach Klarheit, Wahrheit und Gewissheit. Niemand ist gern hin- und hergerissen, in der Schwebe, unsicher. Zweifel stören das Gleichgewicht, sie ziehen uns den sicheren Boden unter den Füssen weg. «Der Zweifel ist ein unerwünschter Gast im seelischen Haushalt», sagt der Zürcher Psychoanalytiker Mario Gmür.
Das Problem: Die Welt, das Leben und die Menschen sind komplex. Nichts ist eindeutig und klar. Wer das nicht akzeptieren will, lebt in einer Illusion und macht es sich zu einfach. Das Wort «Zweifel» kommt vom althochdeutschen «zwīfal». Es bedeutet Zweifalt und ist das Gegenteil von Einfalt.
«In der Überzeugung fühlen wir uns wohlig aufgehoben, sie gibt weniger Arbeit als der Zweifel», sagt Gmür. Wer aber Zweifel nicht zulassen und aushalten kann, leidet an krankhafter Über-Überzeugung. Terroristen , Extremisten, Narzissten: Sie halten Zweifel oder Selbstzweifel nicht aus. «Wer nicht zweifelt, tötet.» Diesen provokativen Satz schreibt der Psychoanalytiker Gmür in seinem Buch «Die Unfähigkeit zu zweifeln». Hitler, Bin Laden, Stalin: Sie alle waren sogenannte Überzeugungskranke. Menschen, die jeden Zweifel an ihrer Weltsicht bei sich selbst unterdrückt und abgespaltet – und für andere unter Todesstrafe gestellt haben.
Aber nicht nur Massenmörder sind «überzeugungskrank», auch unauffällige Normalbürger, die die Spannung der Ungewissheit nicht ertragen. Sie ersparen sich durch das Verdrängen von Zweifeln die Trauer über eigene Niederlagen, Fehler und Ohnmacht.
«Ambiguitätstoleranz» heisst der Fachbegriff in der Psychologie. Zu Deutsch: die Fähigkeit, Uneindeutigkeit zuzulassen. Sie ist neben der Frustrationstoleranz das wichtigste Zeichen von emotionaler Reife. «Sie erfordert eine gefestigte Persönlichkeit», sagt Mario Gmür. Wer Ambivalenz nicht erträgt, drängt auf einfache Lösungen, tendiert zum Schwarz-Weiss-Denken, handelt aufgrund von Vorurteilen. Und entscheidet vorschnell. Denn Zweifeln braucht Zeit.
«Diese Zeit haben wir heute nicht», sagt der deutsche Coach Heinz Jiranek. Der Psychologe berät Führungskräfte und hat ein Buch mit dem Titel «Klug zweifeln» geschrieben. Die Tendenz zu unüberlegten Entscheidungen sei ein Erbe unserer Urgeschichte. «Wenn ein Säbelzahntiger vor einem steht, kann man keine Projektgruppe einberufen und lange darüber nachdenken, was der beste Fluchtweg ist. Man muss sofort und überzeugt handeln.» In Firmen aber funktioniere das nicht. Die Wirtschaft leide enorm unter unhinterfragten Fehlentscheidungen . «Wenn wir das Zweifeln kultivieren, treffen wir bessere Entscheidungen.»
Viele Manager sehnten sich eigentlich danach, Raum und Zeit für Zweifel zu haben. «Aber in den meisten Firmen darf man sich nicht als Zweifler zeigen», sagt Jiranek. Zaudern und Unsicherheit würden als Schwäche ausgelegt, ein Chef müsse immer wissen, was richtig ist und was er will. Auch Mitarbeiter trauten sich oft nicht, ihre Zweifel oder Selbstzweifel zu äussern. «Ich plädiere dringend dafür, dass sich das ändert.»
Denn Zweifeln bedeutet auch: Fragen stellen, kritisch sein, nicht blind folgen. Vor jedem Neuanfang, vor jeder neuen Idee steht ein Moment des Zweifelns. Das Alte wird in Frage gestellt.
Ein Beispiel: Vor 150 Jahren war Gebären oft tödlich. In manchen Krankenhäusern starben bis zu zwei Drittel der Mütter am Kindbettfieber. Die Frauen bekamen eitrige Entzündungen und Blutvergiftungen. Diese Todesfälle waren Alltag, man nahm es hin. Einer jedoch zweifelte daran, dass das Massensterben gottgewolltes Schicksal sei: der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis. «Alles war unerklärt, alles war zweifelhaft, nur die grosse Anzahl der Toten war eine unzweifelhafte Wirklichkeit», schrieb er 1846. Die Medizin war damals fest davon überzeugt, dass Infektionen durch die Witterung, die Konstellation der Sterne und die Jahreszeiten verursacht werden.
Semmelweis bezweifelte das. Er hatte beobachtet, dass das Kindbettfieber in Stationen mit Medizinstudenten viel häufiger vorkam. Ihm kam die zündende Idee. Die Studenten hatten zuvor Leichen seziert, an ihren Händen klebten «Cadavertheile» – sie übertrugen die Bakterien der Toten.
Dass Desinfektion notwendig ist, war damals nahezu unbekannt, die Bakterien ebenso. Semmelweis forderte, dass Ärzte vor der Behandlung von Gebärenden ihre Hände reinigen sollten. Die Ärzte wollten davon nichts wissen. Semmelweis wurde gemobbt und starb vereinsamt in einer psychiatrischen Anstalt. Heute wissen wir, dass Semmelweis’ Zweifel Millionen von Frauen das Leben gerettet haben.
«Die zu sehr Überzeugten stellen das wirkliche Problem unserer Zeit dar», schreibt Psychoanalytiker Gmür. Wer nicht zweifeln kann, teilt die Welt in Gut und Böse ein, wie im Märchen. Und ist anfällig für populistische Lösungen. Heinz Jiranek kritisiert, schon die Schule suggeriere mit ihrem Benotungssystem, alles in Richtig und Falsch einzuteilen. Aber mittlerweile wissen wir dank der Quantentheorie, dass sogar in der Physik nicht alles eindeutig ist.
«Zweifel ist zwar kein angenehmer geistiger Zustand, aber Gewissheit ist ein lächerlicher», sagte der französische Philosoph und Aufklärer Voltaire.
Ohne Zweifel gäbe es keinen Fortschritt und keine bahnbrechenden Erfindungen. Die Emanzipation der Frauen hätte es nicht gegeben, wenn nicht Menschen die göttliche – männliche – Ordnung angezweifelt hätten. Und wir würden heute noch glauben, die Erde sei eine Scheibe. Ohne das Hinterfragen der eigenen Position gäbe es keine Annäherung in Konflikten. Es erlaubt uns, auf das Gegenüber zuzugehen.
Wenn Sie also im Herbst zur Nationalrätin gewählt werden wollen, sagen Sie doch einfach mal in der «Arena», dass auch Sie nicht wissen, wie man ohne Verzicht das Klima heilt – oder die Steuern senkt, ohne dass Geld in der Staatskasse fehlt. Oder wie man Ausländer abschreckt, aber trotzdem Müllmänner und Krankenschwestern anlockt.
Und wenn Sie Chef sind, geben Sie in der nächsten Sitzung ruhig zu, dass Sie manchmal nicht einschlafen können, weil Sie an Ihren Entscheidungen zweifeln. Wie jeder Mensch, der nicht einfältig ist.
Ich habe die letzten Tage viel geschrieben. Und gezweifelt. Zum Beispiel daran, ob mein Text zum Nachdenken anregt. Zweifeln ist anstrengend. Abends habe ich mich vor den Fernseher gesetzt und eine Packung böse Chips gegessen.
Da ist mir Peach Webers Witz in den Sinn gekommen: «Sie, Herr Doktor, wenn ich beim Fernsehgucken Chips esse, bin ich nachher immer voller ZWEIFEL.» Und für einmal hatte ich kein schlechtes Gewissen, als die Packung leer war. Zweifel sind gesund.
1 Kommentar
Das wüssten wir "eigentlich" schon lange. Die Geschichte (der Medizin, der Politik, der Ernährung, der Wirtschaft etc. etc.) liefert haufenweise Beispiele dafür. Und uneigentlich machen wir es munter weiter so, wie wir es schon immer gemacht haben: Zweifler werden im besten Fall belächelt und als "Verschwörungstheoretiker" abgetan, im schlimmeren Fall schikaniert und ruiniert.
Die Menschheit war und ist lernresistent. In jeder Hinsicht.