Was erwartet mich da?
Hat jemand psychische Probleme und ist krankgeschrieben, verlangt die Versicherung oft ein unabhängiges Gutachten. Das kann Betroffene einschüchtern. Was hilft?
aktualisiert am 11. Oktober 2018 - 11:30 Uhr
Leserfrage: «Ich bin aus psychischen Gründen krankgeschrieben . Nun muss ich zum Gutachter. Wie kann ich mich darauf vorbereiten?»
Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie in einer sehr schwierigen Situation sind und sich von allen Seiten bedrängt fühlen. Und das nicht erst seit gestern. Psychische Belastungen zeigen sich ja oft ganz langsam. Oft hadert man lange mit sich: Habe ich denn wirklich etwas? Müsste ich mich halt mehr zusammenreissen?
«Es gibt leider kein MRI, das psychischen Schmerz abbildet.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Psychische Belastungen sind schwer fassbar. Das verunsichert. Leider gibt es keinen Laborwert, der zeigt, dass die Stressachse völlig aus dem Lot ist. Es gibt auch kein MRI, das psychischen Schmerz abbilden kann.
Vor allem fehlt auch ein Ergometer, das die Energie misst, die man aufwendet, um am Arbeitsplatz seine Leistung zu bringen und so zu wirken, wie wenn nichts wäre. Ein solches Gerät könnte zeigen, dass jemand vielleicht viermal mehr Energie verbraucht, um die gewohnte Leistung zu erbringen. Und dass darum etwas geschehen muss – eben zum Beispiel eine Krankschreibung.
Die Krankschreibung ist in der Regel eine grössere Zäsur. Eigentlich sollte sie Entlastung bringen, die Möglichkeit zur Gesundung. Für Betroffene wird sie aber oft belastend: Was denken nun meine Mitarbeitenden über mich, wenn sie mein Pensum abdecken müssen – obwohl man mir nicht ansieht, wie schlecht es mir geht? Was denken die Nachbarn, wenn ich, wie vom Therapeuten verordnet, einen langen Spaziergang mache mitten am Nachmittag?
Die Gesundung erfolgt oft nicht sehr schnell. Das ist bei psychischen Belastungen und Erkrankungen eher die Regel. Und wenn es nicht eine scheinbar offensichtliche Erkrankung wie Schizophrenie ist, kommt relativ schnell der Druck von den verschiedenen Versicherungen.
«Betroffene müssen beweisen, dass sie wirklich nicht arbeitsfähig sind.»
Thomas Ihde, Präsident Pro Mente Sana
Betroffene finden sich bald in der Situation, beweisen zu müssen, dass sie wirklich nicht arbeitsfähig sind. Dabei ist das Selbstwertgefühl sowieso schon stark gesunken, und man leidet an Selbstzweifeln.
Taggeldversicherungen und Sozialversicherungen haben eine Überprüfungspflicht , wie jede Versicherung. Und trotzdem hat die heute vorherrschende Misstrauenskultur gerade bei Menschen mit psychischen Belastungen gravierende Auswirkung auf die Gesundungschance. Eigentlich ein Paradox.
- Machen Sie sich Notizen, die Sie auch ans Gespräch mitbringen können. Was sind Ihre Hauptbeschwerden? Wie wirken sie sich am Arbeitsplatz bei den einzelnen Tätigkeiten aus? Warum können Sie Ihre Arbeit aktuell nicht mehr erledigen? Das sind eigentlich die Hauptfragen, die der Gutachter klären muss.
- Seien Sie möglichst spezifisch. Beschreiben Sie, dass Sie wegen Ihrer Konzentrationsschwierigkeiten bei der Fakturierung sieben Fehler gemacht haben. Oder dass Sie für eine bestimmte Tätigkeit doppelt so lange brauchten (und daher vier Überstunden gemacht haben).
- Erzählen Sie, wie Sie jeden Morgen um vier Uhr erwachten und dann nicht mehr schlafen konnten, weil Ihr Stresspegel schon so hoch war und Sie Angst vor der Arbeit hatten. Und wie Sie darum um acht völlig erschöpft im Büro erschienen. Es geht nicht darum, wie es Ihnen zu Hause oder in der Freizeit geht. Es geht um Ihre Arbeitsfähigkeit – der Gutachter braucht dazu Fakten. Besprechen Sie mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Therapeuten, welche Fakten oder Beispiele sich eignen.
- Seien Sie ehrlich. Ein guter Gutachter merkt, wenn Sie gewisse Symptome hervorheben oder ihre Geschichte ergänzen – aus Angst, dass man Ihnen sonst nicht glaubt. Er merkt, dass etwas nicht stimmt, kann aber nicht sagen, was es genau ist. Dann zieht er alles in Zweifel. Das ist nicht in Ihrem Sinne.
- Intuitiv wollen wir uns oft von unserer besten Seite zeigen. Gerade Menschen mit psychischen Belastungen sind oft perfektionistisch , wollen Konflikte vermeiden und es allen recht machen. Auch dem Gutachter. Das werden Sie unter dem Stress der Begutachtung schlecht ändern können. Weisen Sie den Gutachter auf den Unterschied hin, wie Sie sich im Gespräch geben und wie es Ihnen sonst geht. Sonst nimmt er an, dass es Ihnen immer so geht, wie Sie jetzt gerade wirken.
- Sie dürfen ein Aufnahmegerät mitnehmen und das Gespräch aufnehmen. Informieren Sie den Gutachter oder die auftraggebende Stelle vorher darüber. Das Aufnehmen gibt beiden Beteiligten Sicherheit und sollte eigentlich bei einem so umstrittenen Thema Standard sein. Beim MRI gibt es ja auch eine Bildaufnahme.