Der Tag beginnt wie jeder andere – mit guten Vorsätzen. Heute esse ich nur Salat. Vielleicht noch eine Suppe. Maximal eine Scheibe Brot dazu – Vollkorn, versteht sich Ernährung Alles Quatsch mit Sosse . Und dann mach ich noch eine Stunde Sport. Und meditieren könnte ich auch mal. Ich sehe mich bereits nach einem schweisstreibenden Training auf der Yogamatte sitzen, während die Pfunde vor lauter Ausgeglichenheit nur so von mir runterpurzeln.

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Doch nichts da. Mittlerweile ist es 16 Uhr. Seit Stunden starre ich aufs weisse Blatt. «Schreib einen Beratungstext über emotionales Essen», lautet der Auftrag. Statt zu schreiben, öffne ich ein Glas mit Lindor-Kugeln. Ein kurzes Knacken, und schon zergeht die flüssige Schokolade auf der Zunge. Es dauert nicht lange, und ich greife wieder ins Glas. Knack, mhmm, fein. Noch mal. Und noch mal. Knack. Knack. Knack. Statt zu schreiben, google ich, wie viele Kalorien diese trojanischen Zuckerpferde haben. Dann folgt das schlechte Gewissen: Du bist doof! Vorsätze wieder nicht eingehalten! Wie undiszipliniert kann ein halbwegs vernünftiger Mensch sein?

Frauen sind eher gefährdet

Mit Disziplin hat das wenig zu tun – und mein Verhalten ist ein absoluter Klassiker, erklärt Ernährungsberaterin Ninetta Scura. «Mit Essen versuchen wir, ein Bedürfnis zu befriedigen und Emotionen zu regulieren», sagt die Dozentin im Fachbereich Ernährung und Diätetik an der Berner Fachhochschule. Es ist also eine Ersatzhandlung, die vom eigentlichen Problem ablenkt. Gewisse Leute ziehen in solchen Situationen Corona-Zigis & Co. Wie mit schlechten Gewohnheiten aufhören? an der Zigarette, andere flüchten sich in Computerspiele, wieder andere greifen zur Lindor-Kugel.

Rund ein Drittel der Menschen isst bei Stress übermässig viel – Frauen und Mädchen häufiger als Männer, zeigen Studien. «Emotionales Essen ist keine Essstörung», betont Ninetta Scura. «Es birgt aber Risiken.» Dann etwa, wenn die übermässige Kalorienzufuhr zu Übergewicht führt Gewichtsprobleme «Ich schäme mich für mein Gewicht» und sich daraus gesundheitliche Probleme ergeben.

Schlechtes Gewissen nach emotionalem Essen

Klar ist: Kohlenhydrate, Eiweisse, Fette, Vitamine, Mineralstoffe und Wasser versorgen unseren Körper jeden Tag mit den lebenswichtigen Substanzen, liefern Energie und halten ihn im Idealfall gesund und fit. Essen ist aber noch viel mehr. Es sind die Weihnachtsguetsli, die verführerisch in der Büroküche lauern. Es ist der Duft von Popcorn, den man unweigerlich mit Kino verbindet. Es ist das Lieblingsgericht, das die Mutter gekocht hat, bei dem man selbst dann noch einen Nachschlag will, wenn man längst genug hat. Essen stillt nicht nur das Hungergefühl, es hat auch viel mit Angebot, Verlockung und gesellschaftlichen Konventionen zu tun. Der Unterschied zwischen üblichen Gelüsten und emotionalem Essen zeigt sich in der Regel aber nach dem Essen. «Nachdem man emotional gegessen hat, entwertet man sich typischerweise selbst. Man ist sauer über das eigene Verhalten und wirft sich Undiszipliniertheit vor», sagt Ninetta Scura.

«Dumm. Doof. Undiszipliniert.»

Nicole Krättli nachdem sie von der Milchschokolade verführt wurde

Das Problem bei der Disziplin: Sie ist wie ein 80-Meter-Sprint. Ein geniales Mittel, dank dem Menschen zu sehr viel fähig sind. Sie verlangt aber auch extrem viel Fokus und Konzentration. Disziplin entsteht im Kopf. Der Drang zu essen dagegen im Körper. Besonders in Stresssituationen stürzen Emotionen das Gehirn vom Thron Mehr Resilienz dank Selbstmanagement Mit positiver Einstellung zum Erfolg – so gehts und übernehmen das Zepter. «Disziplin kann also per definitionem nicht das Mittel gegen emotionales Essen sein», sagt Scura. Deshalb hilft nur eins: den tatsächlichen Bedürfnissen, die zum emotionalen Essen verleiten, auf den Grund zu gehen.

Ich vertage die kulinarisch-emotionale Selbstfindung und koche mir stattdessen Spaghetti Carbonara. Obwohl danach der Magen voll ist, möchte ich ein Dessert. Meine Wahl fällt auf Trauben. Früchte sind schliesslich gesund. Den hohen Fruchtzuckeranteil ignoriere ich aktiv. Kaum sind die Trauben verputzt, fällt mein Blick auf die offene Packung Milchschokolade im Regal. Nur ein Reieli, denk ich mir. Oder vielleicht noch eins? Und noch eins und noch eins. «Dumm. Doof. Undiszipliniert», schimpfe ich, noch während ich das letzte Stück verputze. Die Negativspirale beginnt sich wieder zu drehen.

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Hypnotherapie – nicht, was man denkt

Deshalb fahre ich an einem verregneten Donnerstag ins Hypnosystemik-Institut nach Nidwalden, zu Psychologin Ina Hullmann. Ich habe gelesen, dass Hypnotherapie unter anderem bei emotionalem Essen hoch wirksam sein kann. Als ich einer Freundin davon erzähle, sagt sie spontan: «Aber nicht, dass du mir dann jedes Mal wie ein Huhn gackerst, sobald du ein Klingeln hörst.»

Ina Hullmann kennt diese Vorurteile und klärt auf: «Viele glauben, sie legen sich hin, werden hypnotisiert und wollen danach nie wieder ein Stück Schokolade anfassen.» Das würde das Problem allerdings nicht lösen, sondern nur verschieben. «Das emotionale Essen ist nur ein Symptom für ein unbefriedigtes Bedürfnis. Deshalb würde man sich innert kürzester Zeit ein neues Ventil suchen – dann vielleicht ein schädlicheres als Schokolade.»

«Unser Unterbewusstsein benötigt konkrete GPS-Daten, wohin wir wollen, nicht, wohin wir nicht wollen.»

Ina Hullmann, Psychologin, Hypnosystemik-Institut Nidwalden

Ich setze mich in der Praxis auf einen Stuhl. Im Hintergrund spielt kaum hörbar Entspannungsmusik. Ich schildere Psychologin Hullmann die Ausgangslage (zu viel Schoggi, zu viel Spaghetti, zu viele Kilos) und formuliere meine Ziele (weniger Schoggi, weniger Spaghetti, weniger Kilos). Nun beginnt die Aktiv-wach-Trance.

Konkret bedeutet das, dass wir erst mal mein Ziel neu formulieren. Denn «Weniger Schoggi, weniger Spaghetti, weniger Kilos» sei nicht besonders lösungsorientiert, sagt Hullmann. «Unser Unterbewusstsein benötigt konkrete GPS-Daten, wohin wir wollen, nicht, wohin wir nicht wollen.» Blockaden und Ängste, so Hullmann, finden sich meist auf unterbewussten Ebenen. «Das Unterbewusstsein arbeitet in Bildern, Geschichten, Metaphern und Symbolen. Genau diese Sprache nutzen wir deshalb auch während der Hypnotherapie», so Hullmann weiter. Zum Vergleich: Eine kognitive Psychotherapie arbeitet vorwiegend auf der Verstandesebene.

Ich möchte mich leicht fühlen. Emotional und körperlich, sage ich. Mein Gewicht soll keine konstante Baustelle und schon gar keine Quelle der Scham sein, erkläre ich ihr. Ich bewege mich frei durch den Raum, formuliere mein Zielbild und tausche mich mit der Psychologin aus. Die Sitzung entspricht so gar nicht meinem Bild von Trance. Das liegt vor allem daran, sagt Ina Hullmann, dass viele eine falsche Vorstellung davon haben. «Wir alle befinden uns mehrmals täglich in selbst gesteuerten Trancen. Das sind mentale Hamsterräder, sogenannte Alltags- oder Problemtrancen, in denen wir uns immer wieder mit dem gleichen Problem beschäftigen, statt uns auf die Lösungen zu konzentrieren.» Es sind die vielen Stunden, die wir auf dem Sofa verbringen und davon genervt sind, dass wir netflixen statt joggen. Es sind die schlaflosen Nächte, in denen wir uns über die Arbeit ärgern, statt zu überlegen, was uns wirklich glücklich machen würde Positive Psychologie Warum man Glücksmomente intensiv geniessen sollte .

Woher das Verlangen kommen könnte

Etwas Überwindung kostet es dann aber doch, als Hullmann mich bittet, mein Symptom – das emotionale Essen – in den Raum einzuladen und zu beschreiben, wie es aussieht. Ich überlege kurz und sage: «Wie ein übergrosses, braunes Michelin-Männchen, das mit traurigem Gesicht auf dem Schreibtischstuhl sitzt.» Wo genau mein Unterbewusstsein dieses Bild hergenommen hat – es ist mir ein Rätsel.

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Spannend ist aber, dass das Symptom, so negativ es auf den ersten Blick erscheint, eine Funktion hat. In meinem Fall, wie sich nach einer Stunde Unterhaltung mit dem imaginären Michelin-Männchen herausstellt: Früher habe ich beim Abendessen mit meinem Partner über den Tag gesprochen. Obwohl die Trennung richtig war, fehlen mir die gemeinsamen Stunden am Abend, gebe ich zu und wische etwas beschämt eine Träne weg. Plötzlich gehts nicht mehr um Schokolade, Spaghetti und Kilos. Wir sind bei der Ursache des Symptoms angelangt. «Die Lösung für solche Probleme kann nie von aussen kommen», erklärt Hullmann. «Meine Klientinnen und Klienten tragen die Antworten bereits in sich, sie brauchen nur Hilfe dabei, sie zu finden und ihre Ressourcen zu aktivieren.»

Zwei Wochen später. Ich habe angefangen, aufwendiger zu kochen, statt mehr zu essen. Das ersetzt zwar noch nicht den fehlenden Gesprächspartner am Abend, macht es aber möglich, mein Znacht-Ritual in die Länge zu ziehen, ohne automatisch mehr zu essen. Trotzdem öffne ich, sobald der Teller leer ist, automatisch den Küchenschrank. Die Milchschokolade hockt provokativ da und sieht ein wenig aus wie ein übergrosses, braunes Michelin-Männchen. Ich esse ein Reieli, aber dann ist Schluss. Ein erster Erfolg – ein kleiner.

Hypnosystemisches Coaching ist kein Wundermittel. Kann es auch nicht sein. Denn die Ursachen des emotionalen Essens lassen sich nicht immer ganz so schnell verändern, wie man das gern hätte. Sie zu kennen und sich immer wieder zu vergegenwärtigen, hilft allerdings dabei, den Gelüsten weniger nachzugeben. Meistens.

Emotionales Essen: So bekommen Sie die Kontrolle zurück

Wir können Gelüste zwar nicht kontrollieren. Aber wir können entscheiden, ob, wie schnell und wie häufig wir ihnen nachgeben, sagt Ernährungsexpertin Ninetta Scura. In dem Moment, in dem einen die Esslust überkommt, empfiehlt sie folgende Übungen:

  • Fragen Sie sich: Wie stark ist das Bedürfnis auf einer Skala von 1 bis 10 tatsächlich?
  • Gibt es eine Handlung, die das Grundbedürfnis stillen kann, oder eine alternative Handlung, die ablenken könnte: etwa eine Pause, eine Dusche, ein gutes Buch, ein Film?
  • Gibt es eine kalorienarme Variante, die das Bedürfnis ebenfalls stillen könnte?
  • Wenn Sie doch zur kalorienreichen Variante greifen: Essen Sie achtsam und fragen Sie sich nach jedem Bissen, obs noch einen mehr braucht.
  • Das alles nützt nichts? Dann dürfen Sie dem Verlangen nachgeben. Wenn das Bedürfnis so gross ist, erfüllt es offenbar eine andere, ebenfalls wichtige Funktion. Akzeptieren Sie diesen Umstand und verurteilen Sie sich nicht Fehler Wie man lernt, sich selbst zu verzeihen dafür.
  • Fällt es Ihnen regelmässig in derselben Situation schwer, sich zurückzuhalten? Dann ist es sinnvoll, diese Situation genauer zu analysieren, um die Ursache zu verstehen und an ihr zu arbeiten.
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Alles, was man spät abends noch isst, geht direkt auf die Hüften – so der Mythos. Quatsch mit Sosse! Ärztin Claudia Twerenbold klärt auf.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

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Macht spät essen dick?

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