Welche Note würden Sie sich als Pendlerin geben?
Katja Walder: An guten Tagen eine 9,5!

Wow. Was macht Sie so gut?
Ich bin freundlich, kommuniziere, habe das Handy auf leise geschalten und achte darauf, wie und was ich esse. Und meist bin ich für ein Gespräch zu haben.

Woran hapert’s an schlechten Tagen?
Ich bin dann weniger aufmerksam, starre zombiemässig ins Smartphone. An solchen Tagen reicht’s vielleicht noch für eine 7,5.

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Welches Knigge-Gebot brechen Sie am häufigsten?
Wahrscheinlich «Du sollst die Tasche von deinem Nebensitz nehmen.» Eben weil ich gedanklich abwesend bin.
 

«Leute mit Kopfhörer nehmen nicht wahr, was für Geräusche sie machen.»


Wenn ich mich an ein Gebot halten muss, an welches?
Hmmm, schwierige Frage. Vielleicht «Du sollst deine Marotten so diskret wie möglich ausleben». In der Nase bohren, an Pickeln rumdrücken, an Warzen rumkratzen – solche Sachen sollte man im Zug bitte, bitte, sein lassen.

Warum tun Leute das im Zug, aber nicht im Büro?
Ich glaube, die Leute fühlen sich manchmal zu daheim im ÖV. Man verhält sich, als liege man zu Hause auf dem Sofa. Da geht der SBB-Slogan Kommentar «Für wie blöd halten uns die SBB?» «unterwegs zuhause» nach hinten los.

Welche Rücksichtslosigkeit hat Sie am meisten erschüttert?
Ich habe mal eine junge Frau ganz freundlich gefragt, ob ich mein Smartphone an der Steckdose unter ihrem Sitzplatz aufladen dürfe. Sie hat kein Wort gesagt, mich aber mit einem derart verachtenden Blick angeschaut, ich war richtig verstört danach. Aber eben: Ich bin überzeugt, sie ist ansonsten ein netter, aufgeschlossener Mensch. Im Zug aber war sie so in ihrer Blase versunken, dass sie mein Eindringen masslos ärgerte.
 

«She-Bagging» – die Tasche als unverrückbarer Platzversteller.


Ihr Knigge hat 99 Gebote – ärgern Sie sich so oft beim Pendeln?
Nein, überhaupt nicht. Gäbe es all die ÖV-Sünder nicht, woher würde ich dann den Stoff für meine Kolumnen nehmen? Der Knigge ist mit einem Augenzwinkern geschrieben, er soll unterhalten Richtiges Benehmen So verhalten Sie sich korrekt im Restaurant , nicht belehren.

Wäre Leben und Leben lassen nicht die bessere Pendler-Haltung?
Das ist auch eine Haltung. Sie hat aber ihre Grenzen, wenn Anstand und Respekt verloren gehen.

Wer pendelt besser, Männer oder Frauen?
Kann man nicht sagen. Die Verstösse sind unterschiedlich: Frauen verhalten sich häufiger indiskret, erzählen laut Intimitäten über ihren Freund, feilen sich die Nägel, lästern über den Chef. Dazu kommt She-Bagging – die Tasche als unverrückbarer Platzversteller. Männer sitzen häufig breitbeinig da, sprechen laut ins Telefon, verhalten sich rüpelhafter.

Im internationalen Vergleich – wer ist Pendel-Weltmeister?
Da fehlt mir die Erfahrung. Das Beste wäre ein Mix der Pendel-Kulturen: Beim Ein- und Aussteigen sich verhalten wie die Japaner; geordnet, rücksichtsvoll, höflich – während der Fahrt aber offen und kontaktfreudig sein wie die Italiener; auch mal ein Kompliment verteilen, jemandem zulächeln, eine Gemeinschaft schaffen.
 

«Japan oder Italien? Das Beste wäre ein Mix der Pendel-Kulturen.»


Sie heissen eigentlich Franziska von Grünigen und sind Journalistin. Vor sechs Jahren haben Sie sich als Kolumnistin Katja Walder zu erkennen gegeben. Werden Sie im Zug erkannt?
Praktisch nie. Wenn jemand erfährt, dass ich Katja Walder bin, ist die Reaktion eher: «Was, das bist du, das hätte ich nicht gedacht!»

Warum der Name Katja Walder?
Der hat keine Bedeutung. Es sollte einfach ein schweizerischer Durchschnitts-Name sein. Und meines Wissens gibt es in der Schweiz keine andere Katja Walder, ich habe im Internet jedenfalls keine gefunden.

Wie sind Sie zur Pendel-Kolumnistin geworden?
Der «Blick am Abend» hatte vor zehn Jahren eine Art Wanderpokal-Kolumne. Da durfte sich jeder versuchen, und die Leser stimmten ab, ob man weitermachen durfte. Ich fand die Ergüsse häufig recht schlecht und habe das dann mal pointiert so geschrieben. Die Leser wollten mehr und ich brauchte neue Themen. Schliesslich kam ich auf den täglichen Wahnsinn des Pendel-Alltags – eine unerschöpfliche Quelle für Geschichten. Irgendwann hat mir «Blick am Abend» dann eine feste Pendler-Kolumne angeboten.

Sind Ihre Geschichten alle wahr?
Ja. Entweder sind sie mir passiert oder jemand hat sie mir erzählt.
 

«Pendeln ist ein wichtiger Teil meines Alltags.»


Zum Schluss bitte noch ein paar Tipps: Wie soll ich reagieren, wenn mich das laute Telefonieren meines Sitznachbarn stört?
Am besten ein diskretes Zeichen geben, dass man mehr mitbekommt als man eigentlich möchte. In meinem Knigge gibt es dafür übrigens eine lustig illustrierte Karte, die man zeigen kann.

Bei störenden Essgeräuschen?
Da sage ich was, auch wenn das für den Betreffenden beschämend ist. Meist sind dabei Kopfhörer im Spiel – die Leute nehmen nicht mehr wahr, was für Geräusche sie machen. Irgendwann muss man sie auf diese Problematik aufmerksam werden.

Wenn das Pärchen vis-a-vis hemmungslos knutscht?
Das gruuset mich zwar, hier bin ich aber für Toleranz. Wer weiss, wie lange die noch so verliebt sind. Wenn ichs nicht aushalte, sitze ich weg.

Einen Tipp noch an die SBB?
Mehr Steckdosen zum Handy-Aufladen, mehr Lesestoff, nicht nur die immer gleichen zwei Gratiszeitungen, mehr Beinfreiheit. Grundsätzlich bin ich aber sehr zufrieden mit unserer Bahn Schweizer Fernbusse Darum bleiben die Passagiere aus . Freude habe ich immer auch an unfreiwillig lustigen Durchsagen.

Jemals überlegt, aufs Auto zu wechseln?
Nie. Ich habe gar keinen Fahrausweis. Pendeln ist ein wichtiger Teil meines Alltags: Geschenkte Zeit, der Übergang zwischen Familien- und Arbeitswelt Work-Life-Blending Wenn Arbeit und Leben verschmelzen . Ich kann nachdenken, Nachrichten schreiben, plaudern – und vor allem neue Geschichten aufschnappen.


Zur Person: Franziska von Grünigen schreibt unter dem Pseudonym Katja Walder Kolumnen übers Pendeln. Sie erscheinen jeweils am Dienstag und Freitag im «Blick am Abend». Diesen Herbst veröffentlichte die Beobachter-Edition den «Pendler Knigge – 99 Gebote für den ÖV», mit Texten von Katja Walder und Illustrationen von Daniel Müller.

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