Nicole Platel, 2024 suchten täglich 131 Kinder und Jugendliche über die Nummer 147 oder die schriftlichen Kanäle bei der Pro Juventute Hilfe. Das sind 10 mehr als im Jahr davor. Geht es den Jugendlichen wirklich schlechter?
Darauf gibt es – wie so oft im Leben – keine einfache Antwort. Die Krisen kamen in den letzten Jahren Schlag auf Schlag: erst die Pandemie, dann der Ukrainekrieg, steigende Preise bei Konsumgütern und dann der Gaza-Konflikt – all das in Echtzeit auf dem Handy und damit auch in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Das belastet sie psychisch.
 

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Liegt die Zunahme vielleicht auch daran, dass die Jungen sensibler sind für psychische Krisen?
Wir merken, dass Jugendliche heute weniger Angst haben, sich mit psychischen Problemen an eine Beratung Psychotherapie Wer kann mir durch die Krise helfen? zu wenden – was gut ist. Und sicherlich erreichen und sensibilisieren wir auch mehr Jugendliche, weil wir seit drei Jahren auch auf Tiktok, Instagram und Youtube präsent sind. So können wir die Jugendlichen auch auf «ihren» Kanälen ansprechen. Inwiefern die Zunahme in diesem Jahr mit der besseren Erreichbarkeit und der Beratungspraxis mit Whatsapp zusammenhängt, wird sich erst mit der Zeit zeigen.

Zur Person

Zu welchen Themen erhalten Sie die meisten Anfragen?
Es sind zunehmend schwere Themen. Am häufigsten beraten wir Kinder und Jugendliche mit Suizidgedanken: Wir erhalten dazu 13 Kontaktanfragen pro Tag. Im Jahr davor waren es noch 9. Auch die Anfragen zu Gewalt in der Familie haben stark zugenommen: von 9 Anrufen pro Woche auf 14. Das sind Zahlen, an denen wir gar keine Freude haben.
 

Wie alt sind diese Kinder?
Die jüngsten Ratsuchenden sind zirka 11 Jahre alt, das Gros ist 13- bis 14-jährig, die ältesten Anfang 20. Ich bin selbst Mami einer 10- und einer 6-Jährigen – das macht mich auch persönlich sehr betroffen.

«Jeder einzelne Fall macht mich tief betroffen.»

Wie akut sind die Situationen, in denen Jugendliche sich melden?
Das kann so gravierend sein, dass wir eine Krisenintervention auslösen müssen. Wenn jemand konkret in Gefahr ist, müssen wir die Blaulichtorganisationen informieren, um das Leben zu retten. Die Beratenden versuchen, so lange Kontakt am Telefon zu halten, bis die Polizei eintrifft. Letztes Jahr hatten wir 207 solche Kriseninterventionen, im Vorjahr waren es noch 166. Jeder einzelne Fall macht mich tief betroffen.

Woran erkennen Ihre Beraterinnen und Berater, dass es ernst ist und jemand nicht bloss Aufmerksamkeit sucht?
Wir arbeiten mit professionellen Beratungspersonen. Alle haben einen Hintergrund in sozialer Arbeit oder Psychologie. Sie sind ausgebildet im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, auch in Krisensituationen. Sie können etwa an der Stimmlage oder der Art, wie uns erzählt wird, die Situation gut einschätzen.

«Bis ein junger Mensch jemand Fremdes kontaktiert und schwierige Probleme anspricht, braucht es Mut – darum nehmen wir jede Äusserung ernst.»

Nicole Platel, Direktorin Pro Juventute

Wir nehmen jede Äusserung ernst und gehen immer davon aus, dass die Ratsuchenden die Wahrheit erzählen. Denn bis ein junger Mensch jemand Fremdes kontaktiert und solche Dinge äussert, braucht es einiges an Mut. Wenn das Gefühl entstehen würde, dass wir ihnen nicht glauben, wäre das für das Vertrauen fatal.

Das heisst, Sie erhalten nie Spassanrufe?
Doch, aber dann bestellen sie Pizza. Bei diesen sogenannten Prank Calls wollen die Kinder testen, ob wirklich jemand dran ist. Wir nehmen auch diese Anrufer ernst und sagen ihnen, dass es gut ist, dass sie das ausprobieren. Und dass sie sich jederzeit an uns wenden können, wenn sie uns wirklich mal brauchen. Das schafft Vertrauen. Sie wissen so: Die von der 147 sind «real».
 

Zurück zu den ernsten Anrufen. Wie läuft so ein Gespräch ab?
Zuerst geht es um Ersthilfe, das Entgegennehmen und Zuhören. Dann versuchen wir, die Ratsuchenden wieder in Selbstwirksamkeit zu bringen. Das kann sein, indem wir ihnen Handlungsoptionen oder Anschlusslösungen aufzeigen: Stellen, wo sie sich vertiefte Hilfe holen können. Bei Anrufen, in denen das Kind in einer Gewaltsituation ist, versuchen wir, es zu ermutigen, sich weiterführende Hilfe zu holen. Etwa indem wir ihm die Adresse der nächsten Notunterkunft oder der Opferberatungsstelle geben.
 

Welche Art von Gewalt erleben diese Kinder?
Teilweise sind sie selbst Opfer von physischer und psychischer Gewalt. Oder sie erleben physische oder psychische Gewalt zwischen den Eltern mit. Das hinterlässt Narben auf der Seele.

«Schriftliche Kontaktaufnahmen sind herausfordernd, weil die Beraterin die Stimmungslage des Jugendlichen nur mit gezielten Rückfragen einordnen kann.»

Nicole Platel, Juristin

Gibt es auch Situationen, bei denen Ihre Beraterinnen und Berater an ihre Grenzen kommen?
Es ist herausfordernd, wenn kein direkter Kontakt zum betreffenden Kind oder Jugendlichen besteht. Etwa, wenn eine Freundin oder ein Freund anruft, weil er oder sie sich wegen einer Äusserung Sorgen macht. Dann ist es schwierig, die Situation richtig einzuschätzen, weil die Sicht des Betroffenen fehlt. Auch schriftliche Kontaktaufnahmen sind herausfordernd, weil die Beraterin die Stimmungslage des Jugendlichen nur mit gezielten Rückfragen einordnen kann. Der Arbeitsaufwand für diese Beratungen ist im Schnitt doppelt so hoch wie bei Telefonaten.
 

Trotzdem hat Pro Juventute Ende 2023 mit dem Whatsapp-Chat einen zusätzlichen schriftlichen Kanal eröffnet. Warum?
Weil wir als niederschwellige Erstanlaufstelle so nah wie möglich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen sein wollen. Die hohe Zahl der Whatsapp-Nachrichten, die uns erreichen, zeigt, dass wir da einen Nerv getroffen haben.

Wie funktioniert diese Beratung?
Wenn eine Jugendliche uns anchattet, kann es sein, dass nach der Antwort des Beraters sofort ein mehrmaliger Austausch entsteht. Manchmal vergehen aber auch einige Stunden, bis die Beratungspersonen antworten können. Oder die Ratsuchenden melden sich erst Tage später zurück. Das entspricht dem üblichen Chatverhalten auf diesem Kanal. Wenn der Chat länger als 24 Stunden inaktiv war, können unsere Berater den Kontakt nicht wieder aufnehmen. Die Jugendlichen müssen von sich aus wieder auf uns zukommen, wenn die Situation noch aktuell ist. In Krisensituationen sind der Beratung auf diesem Kanal deshalb Grenzen gesetzt.

«Im Whatsapp-Chat können sich viele Jugendliche besser zu schwierigen Themen äussern.»

Nicole Platel

Rufen Sie das Kind im Zweifel auch an, wenn die Situation akut sein könnte?
Nein, niemals. Wir wollen das Vertrauen in unser Versprechen nicht brechen, dass unser Nottelefon 147 ein vertrauliches, niederschwelliges Angebot ist. Wir gehen davon aus, dass der Jugendliche bewusst den schriftlichen Kanal gewählt hat. Viele können sich schriftlich besser zu schwierigen Themen äussern. Und unter Umständen würden wir ihn durch einen Rückruf in eine schwierige Lage bringen. Wir versuchen aber, den Jugendlichen zu überzeugen, dass er uns anruft.
 

Mehr Anfragen von Jugendlichen und eine grosse Nachfrage beim zeitintensiven Whatsapp-Kanal: Wie schaffen Sie das als Organisation?
Wir konnten 2024 dank Fördergeldern verschiedener Stiftungen und der öffentlichen Hand Ressourcen ausbauen und unser Angebot weiterentwickeln.
 

Das heisst, Sie haben zusätzliche Beraterinnen und Berater angestellt?
Ja. Eine konkrete Zahl zu nennen, ist schwierig, da wir zum Teil die Pensen angepasst haben. Wir brauchen weiterhin die Unterstützung der Politik, damit wir als Nothelferin wirken können. Die 147 ist nur zur Hälfte über die öffentliche Hand finanziert. Und wir gehen davon aus, dass die Beratungsanfragen in unmittelbarer Zukunft weiter zunehmen, denn das Problem der Versorgungskette bleibt.

Psychische Krise: Hier finden Kinder und Jugendliche Hilfe

Diese Angebote sind schweizweit rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und ihr Umfeld da – vertraulich und kostenlos:

Adressen weiterer Hilfsangebote bei Krisensituationen

  • Adressen von Beratungsangeboten in allen Kantonen: reden-kann-retten.ch
  • Dargebotene Hand: Telefon 143, 143.ch
  • Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit: ensa.swiss
  • Adressdatenbank «Psyfinder» von qualifizierten Psychologinnen und Psychologen: psychologie.ch

Wo kann ich mich hinwenden, wenn ich Mühe habe, einen Therapeuten zu finden?

  • Viele psychiatrische Kliniken haben ein Ambulatorium mit Sprechstunden. Hier wird abgeklärt, ob eine Erkrankung vorliegt, und man erhält Adressen von passenden Therapeuten.
  • Die psychosoziale Beratung von Pro Mente Sana hilft, die passende Anlaufstelle zu finden, vermittelt aber keine Therapeuten. Die Telefonberatung steht unter der Nummer 0848 800 858 zur Verfügung (Details zur Erreichbarkeit unter promentesana.ch).
  • Der Schweizerische Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) führt unter sbap.ch ebenfalls eine Liste seiner Mitglieder. Hier kann man die Liste in Psychotherapeutinnen und Psychologen unterteilen – je nach den eigenen Bedürfnissen.
  • Die Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) führt unter psychotherapie.ch eine Liste ihrer Mitglieder. Patienten können die Auswahl mit verschiedenen Kriterien wie Symptome oder Sprache filtern.
Quellen