Was sich für Versicherte ändern soll – oder eben nicht
Die Branchenlobby und der Konsumentenschutz kämpfen darum, welche Regeln für Versicherungsverträge gelten. Der Nationalrat hat in vielen Punkten gegen die Interessen der Konsumenten entschieden.
Veröffentlicht am 5. Juni 2019 - 11:57 Uhr
Der Nationalrat hat sich am 9. Mai mit dem Versicherungsvertragsgesetz VVG von 1908 befasst. Es legt unter anderem fest, welche Regeln für die Versicherungsbedingungen, also das sogenannte Kleingedruckte, gelten und definiert damit auch Mindeststandards für den Schutz der Versicherten. Im Nationalrat gab es aus Konsumentensicht zwar einige Verbesserungen, aber in vielen wichtigen Punkten lehnte es eine Mehrheit der Bürgerlichen ab, die Rechte der Versicherten auszubauen.
Dabei wäre genau das ursprünglich vorgesehen gewesen. Der Entwurf, den der Bundesrat 2016 in die Vernehmlassung gab, sah etliche konsumentenfreundliche Bestimmungen vor. Nach der Vernehmlassung und der Kritik der Versicherungslobby strich die Regierung jedoch viele Punkte. Im Nationalrat ging es nun bei den Einzelabstimmungen oft darum, sie wieder in das Gesetz zu schreiben.
Das Endergebnis wurde in der Schlussabstimmung mit 124 Stimmen von SVP, FDP, CVP und BDP angenommen, SP, Grüne und Grünliberale enthielten sich oder sagten Nein. Das Gesetz kommt noch in den Ständerat.
1. Pflichtverletzung: Beweislast neu beim Versicherten
2. Einseitige Vertragsänderungen werden nicht verboten
3. Versicherungen dürfen nicht noch einfacher Leistungen verweigern
4. Krankenversicherer können nicht einfach so kündigen
5. Falsche Angaben können in jedem Fall sehr teuer werden
6. Haftpflicht: Handelt Täter grobfahrlässig, gibt es weniger für das Opfer
7. Kosten von rückkaufsfähigen Lebensversicherungen dürfen unklar bleiben
8. Gesunkenes Risiko – trotzdem muss die Prämie nicht sinken
9. Verjährungsfristen: Nationalrat erfüllt Sonderwünsche der Branche
10. Kunden dürfen 14 Tage lang ihre Unterschrift zurückziehen
11. Ordentliches Kündigungsrecht und Abschaffung der Knebelverträge
Versicherte haben im Schadensfall bestimmte Verpflichtungen. Zum Beispiel müssen sie bei einem Unfall innerhalb einer bestimmten Frist zum Arzt gehen, sonst drohen Leistungskürzungen . Lässt jemand diese Frist verstreichen – etwa, weil ihm die Unfallfolgen anfangs nicht besonders schlimm erscheinen – gilt das als sogenannte Verletzung einer Obliegenheit, die zu Kürzungen berechtigt.
Der ursprüngliche Vernehmlassungsentwurf brachte hier aus Konsumentensicht eine Verbesserung. Denn er sah neu vor, dass die Leistungskürzung nicht möglich ist, wenn die Pflichtverletzung, also der späte Arztbesuch, keinen Einfluss auf die Höhe der Leistungen gehabt hat. Allerdings liess er offen, wer dies beweisen muss. Muss die Versicherung nachweisen, dass der späte Arztbesuch den Schaden vergrössert hat – oder umgekehrt der Versicherte belegen, dass der Zeitpunkt eben keine Rolle spielte?
Der Versicherte ist in der Beweispflicht, fand nun die bürgerliche Mehrheit in der zuständigen Nationalratskommission. Konsumentenschützer verlangten das Gegenteil: die Versicherungen sollten nachweisen, dass der verspätete Arztbesuch die Kosten erhöht hat. Im Plenum setzte sich jedoch die versicherungsfreundliche Position mit 113 zu 71 Stimmen durch. Aus Konsumentensicht ist das ein Rückschritt, da nun die Beweislast eindeutig beim Versicherten liegt.
- Bewertung: Schlechter als bisher
Der umstrittenste Punkt der Gesetzesrevision war die geplante Änderung des Artikels 35
. Der ursprüngliche Entwurf wollte Versicherungen ausdrücklich verbieten, Vertragsklauseln einseitig nachträglich zu ändern. Bisher ist dies im VVG nicht geregelt. Im Zweifel sind es die Gerichte, die entscheiden müssen, ob solche Änderungen zulässig sind. Und das heisst: Betroffene müssen unter Umständen bis vor Bundesgericht klagen.
In der Vernehmlassung gelang es der Versicherungslobby offensichtlich, das geplante Verbot ins Gegenteil zu kehren: Im späteren Gesetzentwurf sollten die Unternehmen explizit das Recht erhalten, Vertragsklauseln einseitig zu ändern. Das hätte ihre Macht deutlich ausgebaut und erlaubt, die Bedingungen nachträglich zu verschlechtern. Der Ombudsmann der Privatversicherungen bezeichnete den neu formulierten Artikel 35 als den «schlimmsten Gesetzesartikel», den er je gesehen habe.
Am Ende war der öffentliche Protest so gross, dass der Nationalrat darauf verzichtete, den Artikel zu ändern. Was für viele wie ein Sieg des Konsumentenschutzes wirkte, bedeutet aber vor allem, dass alles beim Alten bleibt: einseitige Vertragsänderungen sind weiterhin nicht im Gesetz verboten. Der Versicherungsverband meinte dazu: «Damit bleibt die Anpassung von Versicherungsverträgen weiterhin möglich».
- Bewertung: Verbesserung abgelehnt
Der Gesetzentwurf des Bundesrats sah neu die Möglichkeit vor, dass Versicherungen in einem laufenden Schadensfall Leistungen einschränken oder ganz stoppen können, wenn der Vertrag «nach Eintritt des befürchteten Ereignisses beendet wird». Voraussetzung wäre lediglich, dass die Kunden im Vertrag darüber informiert worden sind.
«Wenn dem Versicherungsnehmer diese Klausel nicht passt, kann er auf den Vertrag verzichten.»
FDP-Nationalrätin Daniela Schneeberger
Die Grünen-Chefin Regula Rytz nannte dieses «Zahlungsstopprecht» eine «ungeheuerliche Frechheit» und verlangte, den Passus zu streichen. Wenn ein Kunde dieses Recht der Versicherung im Kleingedruckten übersehe, bleibe er auf seinem Schaden sitzen, kritisierte sie. Das sei «eine erhebliche Verschlechterung der Rechte der Versicherten» und verstosse sogar gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb.
Auf der anderen Seite sah FDP-Nationalrätin Daniela Schneeberger kein wirkliches Problem: «Wenn dem Versicherungsnehmer diese Klausel nicht passt, kann er auf den Vertrag verzichten.» Dennoch gehörte sie später zu den 133 Nationalräten, die die Klausel ablehnten. 49 SVP-Nationalräte sowie die FDP-Nationalrätin und Versicherungslobbyistin Christa Markwalder wollten dagegen an der Bestimmung festhalten.
- Bewertung: Verschlechterung verhindert
Es wäre der Alptraum vieler Versicherter: Man zahlt jahrzehntelang Prämien für eine Zusatzversicherung , um sich zum Beispiel als Privatpatient im Spital behandeln zu lassen, ohne aber diese Leistungen je in Anspruch zu nehmen. Und kaum ist man in einem Alter, wo einen die Versicherung als «schlechtes Risiko» einstuft, kündigt diese die Police. Laut jetziger Rechtslage wäre das erlaubt.
Der Vernehmlassungsentwurf wollte das mit einer Bestimmung ändern, die in der Zusatzversicherung allein dem Kunden ein ordentliches Kündigungsrecht gegeben hätte, nicht aber der Krankenkasse. Der Versicherungsverband lehnte dies jedoch als «gravierenden Eingriff in die Vertragsfreiheit» ab – im späteren Gesetzentwurf war denn auch der Passus gestrichen.
Allerdings schrieb ihn der Nationalrat mit klarer Mehrheit wieder ins Gesetz. Der Verband begrüsste nun diese Wendung und listete das Kündigungsverbot unter den Beschlüssen auf, mit denen der Schutz der Versicherten «weiter ausgebaut» werde. Tatsächlich ändert sich in der Praxis wenig: Laut Versicherungsverband ist ein solcher Kündigungsverzicht, allerdings auf freiwilliger Basis, schon bisher «marktüblich».
- Bewertung: Besser als bisher
Wer, auch unabsichtlich, falsche Angaben beim Abschluss einer Versicherung macht, kann bei einem Schaden leer ausgehen. Der Vernehmlassungsentwurf hätte hier eine Verbesserung für die Kunden gebracht, denn er hielt fest, dass es darauf ankommt, in welchem Ausmass solche Angaben überhaupt für den Schaden relevant sind. Die Stiftung für Konsumentenschutz machte dazu folgendes Beispiel: Ein Versicherter gibt an, das Fundament seines Hauses bestehe aus Stein, obwohl es aus Holz ist. Brennt das Haus ab, kann die Versicherung nach bisherigem Recht festlegen, dass sie gar nichts zahlen muss – nicht einmal den Schaden, den es sowieso auch bei einem Steinfundament gegeben hätte.
Nach dem Votum des Nationalrats bleibt es dabei. Aus Sicht des Versicherungsverbands würde sonst «das Recht des Versicherers auf Leistungsablehnung ausgehöhlt». Es sei in der Praxis kaum möglich, kritisierte der Verband, den korrekten Kürzungsgrad zu ermitteln – so dass am Ende der Versicherte wegen der Beweisprobleme die volle Leistung erhalten müsse. Eine Mehrheit von 128 Nationalräten entschied im Sinne der Branche.
- Bewertung: Verbesserung abgelehnt
Haftpflichtversicherer schränken ihre Leistungen für Geschädigte ein, wenn ihr Versicherter zum Beispiel die Prämien nicht korrekt gezahlt oder grobfahrlässig gehandelt hat. Die SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo forderte, dass solche Einschränkungen wenigstens bei den obligatorischen Haftpflichtversicherungen nicht möglich sein sollten. Eine entsprechende Regelung gab es ursprünglich im Vernehmlassungsentwurf.
Birrer-Heimo verdeutlichte ihr Anliegen mit dem Beispiel eines angetrunkenen Chirurgen, der bei einer Operation pfuscht. Sie verlangte, dass auch in einem solchen Fall der Patient voll entschädigt würde. Die Versicherung müsse sich dann das Geld beim Arzt zurückholen. Es sei «nicht korrekt, dass jemand, der einen Schaden erleidet, auf eine Entschädigung verzichten muss», kritisierte sie. Das sah die Mehrheit anders und lehnte es mit 108 zu 76 Stimmen ab, die Situation der Geschädigten zu verbessern.
- Bewertung: Verbesserung abgelehnt
Wenn man eine rückkaufsfähige Lebensversicherung vorzeitig auflösen will (= Rückkauf), erhält man nur den sogenannten Rückkaufswert. In den ersten drei Jahren liegt er oft bei null, weil die Kosten für Abschluss und Verwaltung am Anfang der Laufzeit belastet werden. Bisher mussten die Versicherungen nicht über diese Kosten der Police informieren. Der Vernehmlassungsentwurf hätte eine solche Informationspflicht vorgesehen. Die Linke scheiterte nun aber klar mit dem Versuch, sie wieder ins Gesetz zu schreiben (62 zu 129 Stimmen).
- Bewertung: Verbesserung abgelehnt
Laut VVG ist die Versicherungsgesellschaft nicht mehr an den Vertrag gebunden, wenn der Versicherungsnehmer «eine wesentliche Gefahrserhöhung herbeigeführt» hat. Sinkt hingegen das Risiko (zum Beispiel, weil die Kinder ausgezogen sind), hat der Versicherte keinen Anspruch auf eine Senkung der Prämie oder eine Kündigung. Die Grüne Regula Rytz und andere wollten das ändern, scheiterten aber deutlich mit 56 zu 133 Stimmen.
- Bewertung: Verbesserung abgelehnt
Bei den Verjährungsfristen ist es den Versicherungen gelungen, ihre Sonderstellung teilweise zu verteidigen. Bisher verjähren Forderungen aus einem Versicherungsvertrag schon nach zwei Jahren, obwohl im Obligationenrecht die Verjährungsfrist fünf oder zehn Jahre beträgt. Die Revision sollte diese Unterschiede einebnen. Dabei kam der ursprüngliche Vernehmlassungsentwurf den Versicherungen bereits entgegen und sah für ihre Branche eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vor.
Die Gesetzesvorlage, über die nun im Nationalrat entschieden wurde, enthielt dann jedoch nach Kritik des Versicherungsverbandes SVV zudem eine Ausnahme für die kollektive Krankentaggeldversicherungen: für sie sollten weiterhin nur zwei Jahre gelten. Eine Mehrheit von 123 Nationalräten entschied so, wie vom SVV gewünscht.
Frédéric Krauskopf, Direktor des Instituts für Haftpflicht- und Versicherungsrecht der Uni Bern, hatte eine solche Ausnahmeregelung schon im Vorfeld scharf kritisiert: «Die Argumente, die für eine zweijährige Verjährungsfrist für die kollektive Krankentaggeldversicherung ins Feld geführt werden, berücksichtigen partikulare Interessen der Versicherer und haben mit der Rechtfertigung und dem Zweck der Verjährung nichts zu tun.»
- Bewertung: Verbesserung teilweise abgelehnt
Versicherungen können einem das Leben in einem Schadenfall wesentlich erleichtern. Doch die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind nicht immer leicht zu verstehen. Beobachter-Mitglieder erhalten wertvolle Tipps im Umgang mit Privatversicherungen sowie mit provisionshungrigen Vermittlern.
Bisher konnten Kunden ihre Unterschrift unter einen Versicherungsantrag nicht widerrufen . Zwar gilt bei sogenannten Haustürgeschäften eine 14-tägige Widerrufsfrist, doch das Haustürgesetz nimmt Versicherungsverträge ausdrücklich davon aus. Die Gesetzesrevision sieht nun neu ein 14-tägiges Widerrufsrecht auch für Kunden von Versicherungen vor.
- Bewertung: Besser als bisher
Bisher ist es möglich, zum Beispiel eine Haftpflichtversicherung für zehn Jahre ohne ordentliches Kündigungsrecht abzuschliessen. Man ist also zehn Jahre an diesen Vertrag gebunden, auch wenn man inzwischen festgestellt hat, dass man bei einem Wechsel der Versicherungsgesellschaft jedes Jahr viel Geld sparen könnte.
Mit der Revision sollen solche «Knebelverträge» nicht mehr möglich sein. Neu ist vorgesehen, dass man den Vertrag ab dem dritten Jahr auf jedes Jahresende kündigen kann, auch wenn eine längere Laufzeit vereinbart wurde. In der Praxis ist es für Kunden allerdings schon heute möglich, ein jährliches Kündigungsrecht zu vereinbaren – sie müssen es einfach verlangen.
- Bewertung: Besser als bisher
Unter dem Strich hat der Nationalrat die Macht der Versicherungen nicht so stark ausgebaut, wie es die zuständige Kommission wollte, sondern die aus Konsumentensicht schlimmsten Bestimmungen verhindert. Die bürgerliche Mehrheit hat aber auch die meisten Verbesserungen für Konsumenten abgelehnt . So sehen sich Versicherte weiterhin mit einem Regelwerk konfrontiert, das im Kern aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammt – die Vorstellung eines mündigen Konsumenten spielte damals keine Rolle.