Was wir von den Grosseltern lernen können
Wenig Fleisch, kaum Abwechslung auf dem Tisch: Das karge Essen von anno dazumal scheint aus heutiger Sicht nicht besonders gesund. Doch der Eindruck täuscht.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2019 - 19:13 Uhr
Von einer Revolution am Esstisch sprechen die einen, von einem grünen Wahn die anderen: Gemeint ist der Trend, weitgehend auf Fleisch zu verzichten oder sogar vegetarisch oder vegan zu leben.
Eine Ernährungsart, die man schon vor über hundert Jahren praktizierte. Damals allerdings aus finanzieller Not: Das Luxuslebensmittel Fleisch gab es höchstens ab und zu als Sonntagsbraten, ansonsten standen Linsengerichte, Erbsen, Bohnen, Polenta, Vollkornbrot, Kartoffeln, Reis, Pasta, Gemüse, Milch im Müesli und viel Käse auf dem Speiseplan.
Unsere Grosseltern ernährten sich also gemäss den heutigen Ernährungsempfehlungen, die predigen: den Milch- und Fleischkonsum senken, den Anteil an Hülsenfrüchten, Gemüse und Milchprodukten wie Käse und Joghurt erhöhen.
Ob die Grosseltern wegen ihrer Ernährungsweise auch gesünder waren, lässt sich schwer feststellen – da damals die Gesundheitsdaten noch nicht erhoben wurden. «Es geht letztlich immer um eine ausgewogene Zufuhr von Nährstoffen und Energie, also um eine ausgeglichene Bilanz von Bedarf und Aufnahme », präzisiert Christine Brombach, die am Institut für Lebensmittel und Getränkeinnovation der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften lehrt und forscht.
Heute gebe es diesbezüglich grosse Unterschiede, je nach Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung. So legten Frauen mehr Wert auf den Gesundheitsgehalt der Nahrung, würden mehr Obst, Gemüse, Milcherzeugnisse, Vollkorn- und Diätprodukte verzehren. «Männer essen hingegen mehr Fleisch und trinken mehr Alkohol.» Was aber generell gelte: Übergewicht nehme zu, die körperliche Aktivität ab.
Seit dem Zweiten Weltkrieg wird das Essverhalten der Schweizer Bevölkerung wissenschaftlich erfasst. Heute erfolgt dies primär aufgrund der nationalen Ernährungserhebung «Menu CH» durch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG). Damit werden auch das Trink- und Kochverhalten sowie die Bewegungsgewohnheiten der Schweizer Bevölkerung festgehalten.
Es wird bei weitem mehr Süsses und Salziges konsumiert als empfohlen, so die Studienautoren. Der Anteil an Ölen, Fetten und Nüssen entspricht ungefähr den Empfehlungen, während die Bevölkerung zu wenig Milchprodukte wie Joghurt und Käse, Hülsenfrüchte sowie Früchte und Gemüse esse.
Von einem veganen Leben ist man in der Schweiz weit entfernt: Der Anteil derjenigen, die sich vegan oder auch nur vegetarisch ernähren, liegt bei lediglich 5 Prozent. Fleisch wird generell noch zu viel verzehrt, und zwar zunehmend Edelfleisch. Heute sind es im Durchschnitt 52 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr – das sind jedoch immerhin rund 20 Kilo weniger als noch 1987. Weltweit steigt der Konsum von Fleisch aber weiter, Agrarexperten rechnen bis 2050 mit einer Verdoppelung.
Trendsetter bei den pflanzlichen Nahrungsmitteln sind derzeit Hülsenfrüchte , Dinkel und Olivenöl. Bei den tierischen Erzeugnissen scheinen ebenfalls die als gesund geltenden Nahrungsmittel wie Fisch oder Geflügelfleisch an Bedeutung zu gewinnen, während Schweinefleisch in den letzten Jahren an Beliebtheit eingebüsst hat.
Hoch im Kurs liegen Avocados und Beeren sowie Quinoa. Generell scheinen sich auch tropische und subtropische Früchte steigender Beliebtheit zu erfreuen, während der Konsum von Äpfeln, Trauben oder Orangen eher stagniert.
Die neuesten Ergebnisse von «Menu CH» für 2017 zeigen ausserdem, dass sich 71 Prozent der Befragten am Mittag ausser Haus verpflegen und jüngere Personen öfter als ältere selber kochen – vor allem abends. Fürs Kochen werden durchschnittlich 38 Minuten pro Mahlzeit aufgewendet. Convenience-Produkte vereinfachen dabei das «Kochen».
Dass die Qualität der Ernährung von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln abhängt, zeigt eine Studie des Schweizerischen Nationalfonds. Sie kommt zum Schluss, dass die Ernährungsgewohnheiten von Personen mit einem hohen Ausbildungsstand und Einkommen der mediterranen Diät, die vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen , Diabetes und Übergewicht schützen soll, am nächsten kommen.
Aber auch das Geburtsland spielt eine Rolle. Trotz ihres niedrigeren sozioökonomischen Status haben Einwanderer aus Italien, Portugal und Spanien die mediterrane Ernährung beibehalten und essen gesünder als Menschen, die in Frankreich oder der Schweiz geboren wurden.
Dennoch werden sie nicht annähernd so viel für Nahrungsmittel ausgeben wie Arbeiter Ende des 19. Jahrhunderts. Damals gab eine Arbeiterfamilie im Durchschnitt rund 62 Prozent des Haushaltsbudgets für Essen aus, heute sind es weniger als 10 Prozent. «Die Lebensmittel sind heute zu preiswert», meint Christine Brombach. «Sie sind im Übermass vorhanden, jederzeit rund um die Uhr verfügbar, unabhängig von der Saison ist alles da.» Ein Schlaraffenland, das auch zum Wegwerfen von Lebensmitteln verführt. «Hat die Banane einen Fleck, wird sie weggeworfen, Brot vom Vortag vergeudet. Das war vor 60 Jahren undenkbar!» Der Massenmarkt und die Anonymisierung der Herstellung liessen vergessen, wie viel Mühe, Arbeit, Rohstoffe und auch Ressourcen in Lebensmitteln stecken.
Stattdessen ist Essen heute für viele auch ein Ausdruck von Individualität: Wir lesen Ernährungsbücher, stellen Fotos unseres Mittagessens auf Instagram oder Facebook und kaufen Salze aus dem Himalaja.
Ob Slow Food, regionale Küche, Intervallfasten – Essen ist für viele sowohl Lifestyle als auch ein Statement. «Über das Essen oder Nicht-Essen von Lebensmitteln drücke ich aus, wer ich bin oder sein möchte. Ausserdem scheint die Beschäftigung mit dem Essen eine Art von Expertise zu sein, die nach aussen sichtbar wird nach dem Motto: ‹Schau, was ich zubereiten kann, was ich esse …›. Ich drücke meinen sozialen Status darüber aus», sagt Professorin Brombach.
Dieser Umgang mit Essen ist nicht unproblematisch . «Wenn alle Menschen auf der Welt sich so ernähren würden wie wir uns in der Schweiz», warnt die Professorin, «dann hätten wir in wenigen Jahren alle verfügbaren Ressourcen des Globus aufgegessen, und unsere Nachkommen hätten nichts mehr übrig.»