«Eine bessere Drogenpolitik hätte viel Elend verhindert»
André Seidenberg kämpfte vor 30 Jahren mit Methadon und sauberen Spritzen gegen die Verwahrlosung der Heroinsüchtigen. Heute fordert er die ärztliche Abgabe aller Drogen.
Sie haben für den Film «Platzspitzbaby» die Hauptdarstellerin Sarah Spale beraten. Wo lagen die Schwierigkeiten, authentisch eine drogensüchtige Mutter darzustellen?
André Seidenberg: Man muss genau wissen, welche Droge wie wirkt – auch über einen längeren Zeitraum. Sarah Spale hat sich sehr intensiv mit ihrer Rolle befasst. Sie wollte ganz genau wissen, wie sich eine Drogensucht manifestiert, damit sie sie körperlich und psychisch umsetzen konnte. Sie forderte mich auch auf, ihr detailliert zu zeigen, wie man sich einen Schuss setzt.
Gibt es typische Missverständnisse, wenn man versucht, sich in einen Junkie hineinzuversetzen?
Da werden Kraut und Rüben verwechselt, die Effekte von Kokain und Heroin vermischt. Häufig, wenn man annimmt, dass jemand ein Heroin-Junkie ist, sieht man die Effekte von Benzodiazepinen
– also Beruhigungsmitteln. Einen Heroin-Effekt sieht man bei Abhängigen nur, wenn man dabei ist, wenn sie sich den Stoff spritzen – und auch dann nur für einige Sekunden. Bei blauäugigen Leuten kann man etwas länger verengte Pupillen beobachten.
In «Platzspitzbaby» ist unverständlich, dass das Kind nicht beim Vater oder in einem Heim platziert wurde. Wäre das heute anders?
Ich denke schon. Zu Platzspitz-Zeiten waren die Behörden sehr zurückhaltend. Das hat mit dem Skandal um die «Kinder der Landstrasse»
zu tun. Pro Juventute und die Vormundschaftsbehörden hatten ja bis in die siebziger Jahre Frauen die Kinder weggenommen – weil sie angeblich ein unbürgerliches Leben führten. Oft geschah das ohne triftigen Grund. In der Aufarbeitung des Skandals wurden viele Heimkinder freigelassen. Mehrere hundert von ihnen stürzten ab und landeten in der Zürcher Drogenszene. Sie machten wohl gegen 20 Prozent der damals Süchtigen aus. Die Vormundschaftsbehörden wollten auf keinen Fall diesen Fehler wiederholen – schon gar nicht mit Heimkindern. Heute wäre das wohl anders. Es wird differenzierter hingeschaut, das
Kindswohl steht im Zentrum.
Sie haben über 3000 Junkies behandelt. Hatten Sie auch mit ihren Kindern zu tun?
Das kam sogar oft vor. Ich hatte eine Familie mit mehreren Generationen in meiner Praxis. Die Grosseltern waren zwar nicht süchtig, litten aber mit dem Rest der Familie. Ihre Kinder und ihre Enkel waren drogenabhängig.
Haben Sie es den Behörden gemeldet, wenn ein Kind unter der Sucht der Eltern litt?
Ich habe sehr schwierige Situationen miterlebt. Als Arzt stand ich auf der Seite der Süchtigen. Ab und zu war eine Situation aber so unerträglich, dass es nicht mehr anders ging. Da war etwa die Mutter, die im Kokainrausch
vermeintliche Insekten aus der Haut ihrer Kinder herausschnitt. Dieser Zoonosenwahn ist typisch für Kokainsüchtige.
Haben Süchtige ihre Kinder immer vernachlässigt?
Es gab Eltern, die ihre eigenen Kinder anfixten, und später starben alle an Aids. Man darf das aber nicht verallgemeinern. Es gab viele Süchtige, die sich vorbildlich um ihre Kinder kümmerten. Ich erinnere mich an eine schizophrene und heroinabhängige Frau, die unter Methadon eine ganze Familie mit drei Kindern managte.
Wenn Sie das Schicksal der Mutter und ihrer Tochter aus dem Film betrachten: Ein Kind lebt verwahrlost bei der Mutter und muss ihr auch bei der Beschaffung der Drogen helfen. Wie hätte man damals solch dramatische Szenen verhindern können?
Man hätte schon früher eine bessere Drogenpolitik
fahren müssen. Eine, die weniger exzessiv auf Abstinenz ausgerichtet ist. So hätte man die Drogensüchtigen besser versorgen und Gewalt und Elend bei der Drogenbeschaffung und im Umfeld der Süchtigen verhindern können.
Wieso wurde das nicht gemacht?
Die bürgerliche Mehrheit glaubte damals, das Drogenproblem mit Repression eindämmen zu können, und verhundertfachte die Polizeikräfte. Nach der Schliessung des Platzspitz 1992 wurden Junkies mit Schlagstöcken und Tränengas durch die Strassen getrieben. Verzweifelt versuchten sie noch im Laufen, sich den Stoff zu spritzen. Auch saubere Spritzen
wurden viel zu lange nicht abgegeben. Und Ärztinnen und Ärzte, die Methadon verschrieben, wurden von den Behörden kriminalisiert. Es gab deswegen mehrere Prozesse.
Haben die Verantwortlichen das Elend und den Tod der Menschen damals einfach in Kauf genommen?
Ja, das ist so. Die Drogenproblematik war eben auch immer eng mit den Jugendbewegungen der sechziger und achtziger Jahre verbunden. Die bürgerliche Gesellschaft kämpfte gegen die Aufmüpfigkeit der Jugendlichen. Und dazu gehörte auch der Konsum von Drogen.
Wann kippte die Politik?
Es waren derart viele Leute so schwer krank, dass auch Bürgerlichen klar wurde: So kann es nicht weitergehen. Mitte der neunziger Jahre waren Drogen die häufigste Todesursache bei den 15- bis 45-Jährigen. Einige Ärzte haben massgeblich zum Umschwenken beigetragen. Wir ignorierten die politischen Vorgaben zunehmend, weil sie nicht problemgerecht und für die Süchtigen tödlich waren. Der Game-Changer war die von uns geforderte niedrigschwellige Methadonabgabe. Dadurch ist die Drogenszene praktisch von der Strasse verschwunden.
Über Repression strebte man eine suchtfreie Gesellschaft an. Ist das nicht verständlich?
Die Ideologie der Abstinenzler hat mit uralten religiösen Prägungen zu tun. Sünden verhindern, Kampf gegen den Teufel, Abstinenz als Gegenkonzept zur Überflussgesellschaft. Früher gab es eine breite Basis für diese Politik. Nicht von Bürgerlichen, sondern aus linken Kreisen dominierte eine Kritik an der Gesellschaft als Suchtmaschine. Die Linken waren der Meinung, der Drogenkonsum dämpfe die revolutionäre Kraft in der Gesellschaft. Dabei machten alle denselben Fehler: Abstinenz ist oft nicht realistisch.
Inwiefern?
Wissenschaftliche Untersuchungen auch aus der Region Zürich zwischen 1991 und 2005 zeigen, dass nur fünf Prozent aller Opioidabhängigen einen nachhaltigen Entzug schaffen. Man muss davon ausgehen, dass eine Opioidabhängigkeit ein lebenslanges Problem ist. Auf Abstinenz zu drängen vergrössert die Probleme der Süchtigen. Die Methadon-Richtlinien der universitären Psychiatrie und der Gesundheitsdirektion versteiften sich damals auf Abstinenz als erstes Ziel. Sie waren schlicht gefährlich und jenseits jeder Realität.
Der «Needle-Park»
Die suchtfreie Gesellschaft wird auch heute noch als Ziel verfolgt – etwa von der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Ich halte das für kontraproduktiv. Viel sinnvoller ist der langfristige Ersatz krank machender Drogen durch weniger schädliche Substanzen
und Zubereitungen. Durch Opioidersatz sterben viermal weniger Abhängige, sie werden viermal weniger krank, weniger kriminell und müssen sich nicht prostituieren, um die Sucht zu finanzieren.
Wird ein gewisser Anteil der Bevölkerung also immer süchtig sein?
Ja, zumal die Suchtmöglichkeiten heute sogar zugenommen haben, wenn man sich nicht auf klassische Drogen beschränkt. Wir müssen uns ja mit immer neuen Konsummöglichkeiten auseinandersetzen.
Für Opioidabhängige gibt es seit der Zeit des Drogenelends bei Platzspitz und Letten die Methadon- und die Heroinabgabe. Die Schweiz wurde für diese Substitutionspolitik weltweit gelobt. Was fehlt heute?
Heroin ist heute nicht mehr das Hauptproblem. Drei Viertel aller Junkies sind in einer mehr oder weniger durchgängigen Substitutionsbehandlung. Viele sind aber auch abhängig von Kokain oder Tabletten
, oft mischen sie die Substanzen. Auch dafür bräuchte es eine durch das
Gesundheitssystem kontrollierte Abgabe an Süchtige. Drogen gehören grundsätzlich in die Medizin.
Wie stellen Sie sich das vor?
Jede abhängig machende Substanz sollte von einem Arzt, einer Ärztin verschrieben werden – auch Kokain und Cannabis. Bei Alkohol
und Tabak ist das unrealistisch. Aber für alle anderen Substanzen wäre eine kontrollierte Abgabe über medizinisches Personal sinnvoll. Der Staat müsste die Rahmenbedingungen dafür schaffen, damit Ärzte nicht ständig eine Strafanzeige riskieren.
Sie sind also gegen eine komplette Liberalisierung auch von Cannabis?
Ja, das fände ich unverantwortlich. Der Ruf nach Liberalisierung will libertäre Bedürfnisse
befriedigen, weil einige am Abend in Ruhe ihren Joint paffen wollen, ohne vom Staat behelligt zu werden. Das darf aber nicht unsere einzige Sorge sein. Wenn wir schwere Probleme vermeiden wollen, müssen wir einen gut kontrollierten Markt schaffen. Wer meint, auf regelmässigen Cannabis-Konsum angewiesen zu sein, sollte dafür mindestens halbjährlich ein ärztliches Rezept holen, mit dem er den kontrollierten Stoff über eine Apotheke beziehen kann. So können problematische Entwicklungen bei Konsumenten, etwa Hinweise auf
Psychosen, rechtzeitig erkannt werden.
Wie könnte eine kontrollierte Abgabe von Kokain aussehen? Anders als beim Heroin gibt es ja – ausser vielleicht Ritalin – keine Ersatzprodukte, die das Bedürfnis eines Süchtigen ersetzen.
Meine Idee ist ein Inhalator, der so programmiert werden kann, dass er eine bestimmte Anzahl von Zügen pro Tag, Woche oder Monat abgeben kann. Ich stelle mir ein Gerät ähnlich einer E-Zigarette
vor. Auch hier überwacht der Arzt den Süchtigen enger: Der Abhängige muss zum Arzt gehen und einen angemessenen Konsum aushandeln. So kann auch der Süchtige ein Stück weit die Kontrolle über die Sucht zurückgewinnen.
Die Bilder der Drogenszenen am Platzspitz und am Letten schockierten die Welt. Sind offene Drogenszenen völlig verschwunden?
Seit der Schliessung des Letten 1995 kann man nicht mehr von grösseren offenen Szenen sprechen. Mit dem Aufkommen des Handys sind auch die meisten kleineren Szenen verschwunden, die sich danach gebildet hatten. Es ist schlicht nicht mehr notwendig, sich in Gruppen zu treffen, um Stoff zu kaufen.
In «Platzspitzbaby» kümmert sich die elfjährige Mia (Luna Mwezi) um ihre heroinsüchtige Mutter Sandrine (Sarah Spale). Verzweifelt versucht sie, ein wenig Verbindlichkeit und Geborgenheit ins kaputte Leben der beiden zu bringen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Sucht ist stärker, beherrscht die Mutter-Tochter-Beziehung immer umfassender.
Die Mutter instrumentalisiert ihre Tochter für das Beschaffen von Heroin an der Zürcher Langstrasse, packt ihr zum Klauen im Denner Zigaretten und Alkohol unter die Jacke. Die Behörden realisieren das Elend. Trotzdem belassen sie das Sorgerecht bei der Mutter. Der Vater muss hilflos zusehen.
Pierre Monnard («Wilder») führte Regie bei dem rührenden Drama. Es basiert auf der gleichnamigen Biografie von Michelle Halbheer, einem realen Platzspitzbaby. Luna Mwezi und Sarah Spale (die Kommissarin aus «Wilder») spielen ihre Rollen erschreckend überzeugend, machen den Film zu einem kleinen Meisterwerk.
Wer auf Erklärungen hofft, warum in den achtziger und neunziger Jahren täglich Tausende zum Platzspitz und später an den Letten strömten, um sich einen Schuss zu setzen, wird sie im Film nicht finden. Die No-Future-Generation, das Ende der Jugendbewegung, die Flucht in Drogen und die Ohnmacht und Gleichgültigkeit der Gesellschaft werden nur angedeutet.
Wer mehr darüber wissen will, findet auf Platzspitzbaby.ch ergänzende Interviews mit Zeitzeugen und Dokumente. Die Pädagogische Hochschule Luzern hat sie zur Vorbereitung für Schulklassen zusammengestellt.
«Platzspitzbaby» läuft ab 16. Januar in den Schweizer Kinos.
3 Kommentare
Seien wir doch endlich mal alle Ehrlich...
Sucht ist eine Krankheit. Jeder der Neurologie und/oder Stoffwechsel im zweiten Semester hat, kann dies in 20 Minuten mit medizinischen Fakten Beweisen. Seien wir erhlich: Wir haben Kranke durch unterlassene Hilfeleistungen getötet. Wir haben Kranke verfolgt, gejagt und vereelendet. Wir haben Kranke in die Hände der Suchtmaffia getrieben. Wir haben mit unserer sauberen Schweizer Politik tausende mit HIV angesteckt, durch das damalige Abgabeverbot von Spritzen durch Apotheken in Zürich. Sucht kommt nicht von ungefähr, sie ist Systemimmanent. Viele sind einfach "Schmerzpatienten" welchen man keinen Glauben schenkte. Es gab vor 20 Jahren schon Konzepte das Drogenproblem Human zu lösen, siehe den Bericht auf dem Beobachter von Francois van der Linde: François van der Linde beriet den Bundesrat 30 Jahre lang in Drogenfragen. Er wünscht sich eine Zeit herbei, in der legale und illegale Substanzen gleich behandelt werden – und klare Regeln gelten.
Danke für das Lesen des Beitrages: Beatus Gubler, Projekte Streetwork Basel.
Auch bei der Drogensucht, gilt es meiner Meinung aus Praxiserfahrung, nicht "Übelbekämpfung" zu betreiben, sondern begleitete "Ursachen-Verursachungs-Behebung, Verbesserung" anzustreben.
Danke, da kann ich mit Ihnen übereinstimmen. Sucht ist etwas, was zum Leben gehört. Sucht welche der gesundheit schadet, kann geheilt und/oder erfolgreich substituiert oder behandelt werden. Denn sie hat immer Ursachen. Suchtkranke welche weder gewalttätig sind noch kriminelle Energie haben, zu verfolgen, zu bestrafen und in die Hände der Drogenmaffia zu treiben durch Vereelendung, ist unmoralisch, unmenschlich und falsch. Ich habe 20 Jahre als Streetworker hinter mir und wir haben viel gelitten bei dem was wir sahen. Unsere Drogenpolitik hat ein Feindbild geschaffen und grenzte zumindest früher an fahrlässige Tötung von kranken Menschen.