Kleinkrieg in der Kanzlei
Eine 60-jährige Frau arbeitet auf einer Gemeindeverwaltung. Sie macht einen guten Job, die Kollegen schätzen sie. Bis eine neue Mitarbeiterin auf den Plan tritt.
Veröffentlicht am 18. September 2019 - 15:50 Uhr
Als Karin Widmer* realisierte, wie sehr sie unter ihren Schlafproblemen und Angstzuständen litt, war es schon fast zu spät. «Ich war im Kampfmodus», sagt die 63-Jährige heute, «ich habe vieles ausgeblendet.» Sie sei bei der Arbeit plötzlich systematisch geschnitten worden und habe nicht gewusst, was tun.
Karin Widmer ist ein Mobbingopfer, eines von Tausenden in der Schweiz – verlässliche Zahlen gibt es nicht. Die Mobbing-Zentrale Schweiz berichtet, dass sich jede Woche sechs bis zwölf Personen melden. Betroffene gerieten in eine Art Tunnel. Es sei typisch, dass sie es zu spät bemerkten, um noch selber rauszufinden, sagt Claudia Stam. Die Psychologin leitet eine eigene Fachstelle Mobbing und Belästigung. Mit der Hilfe von Stam fand Karin Widmer aus dem Schlamassel. «Sie hat grossen Anteil daran, dass es mir heute besser geht.»
Die Geschichte von Karin Widmer handelt von systematischer Ausgrenzung, die sich anfühlt wie ein Schraubstock, der sich immer enger zusammenzieht. Es ist eine Geschichte der Verunsicherung, an deren Ende sie nicht mehr weiss, wer im Recht ist. Über den Fall in der 1000-Einwohner-Gemeinde ausserhalb von Schaffhausen hat bereits die dortige Wochenzeitung «Schaffhauser AZ» berichtet.
«Opfer- und Täterrolle sind in Mobbingfällen nicht klar verteilt.»
Claudia Stam, Mobbingberaterin
In einem Café mitten in Schaffhausen. Es ist ein Freitag im August, in der Innenstadt bauen sie eine Bühne auf, Bundesrätin Simonetta Sommaruga wird sprechen. Karin Widmer erzählt, wie sie im Frühling 2016 ihre Stelle antrat und etwas Bedenken hatte, weil es mit 60 doch nicht üblich sei, noch einmal in einem neuen Job anzufangen. «High Risk», sagt sie. Auch wenige Wochen später habe sie noch gedacht: «Doch, so habe ich mir das vorgestellt.»
Karin Widmer wird geachtet von ihren Kolleginnen und Kollegen, sie geniesst Respekt im Gemeindegremium, vor allem weil sie schnell und gut arbeitet. 80 Prozent beträgt ihr Pensum, schnell hat sie Überzeit angehäuft, es gibt viel zu tun bei der Einwohnerkontrolle der Gemeinde. «Schon nach drei Monaten wurde ich gefragt, ob ich nicht auf Vollzeit aufstocken wolle», sagt sie.
Claudia Stam, die seit mehr als 20 Jahren als Mobbingberaterin arbeitet, wehrt sich gegen die Bezeichnung Opfer. «Weil Opfer- und Täterrolle in Mobbingfällen nicht klar verteilt sind.» Oft gebe es Wechselwirkungen. Auch Mobbende sehen sich als Opfer, fühlen sich durch irgendetwas angegriffen.
Karin Widmer sei kein klassisches Opfer. Sie tritt dominant auf, ist schnell akzeptiert, macht gute Arbeit und Vorschläge, wie sich die Abläufe in der Kanzlei verbessern liessen. Sie erhält nach einiger Zeit sogar eine Lohnerhöhung. «Das Mitarbeitergespräch war kurz», erzählt sie. Ihre Erinnerungen sind unterschiedlich: manchmal detailgetreu scharf, dann wieder verschwommen, alles verdrängend.
In Karin Widmers Erzählung tritt dann eine jüngere Frau auf, die sie nur «die Stellvertreterin» nennt. Sie sollte Widmer nach der Pensionierung beerben und wurde deshalb im Mai 2018 mit einem 20-Prozent-Pensum angestellt. Widmer sollte später auf 80 Prozent reduzieren.
Die Zusammenarbeit beginnt gut. «Wir hatten ein kollegiales Verhältnis», erzählt sie. Das forsche und dominante Auftreten der Stellvertreterin habe ihr anfänglich gefallen, «es war ein gewisser Drive, von dem ich mich gern habe mitreissen lassen». Der Gemeindepräsident war damals nur selten in der Kanzlei. Zu Widmer hatte er in den ersten beiden Jahren ein distanziertes, aber von Respekt geprägtes Verhältnis gehabt. So zumindest hat sie es in Erinnerung. «Sein Büro war ausserhalb der Kanzlei. Ich war mit der Stellvertreterin allein im Büro.»
«Wir hatten ein kollegiales Verhältnis.»
Karin Widmer*, Mobbingopfer
Es sei der neuen Arbeitskraft sehr wichtig gewesen, Überstunden zu machen, wohl weil sie ihr Pensum habe erhöhen wollen, vermutet Karin Widmer. Vielleicht sei das der Grund für die ersten Unstimmigkeiten
gewesen, die zwischen den beiden Frauen und dem Gemeindepräsidenten auftraten.
Eines Tages habe es einen Disput mit der Stellvertreterin gegeben, in der es um Überzeit ging – und darum, dass sie sie trotz Aufforderung nicht abbauen wollte. Eine Lappalie sei das gewesen, sagt Widmer heute.
Ein paar Tage später geht in ihrem Postfach eine E-Mail ein, die Kanzlei, der Gemeinderat, alle haben sie bekommen. Darin steht, dass Karin Widmer und die Stellvertreterin per sofort gleichgestellt sind. Karin Widmer reagiert mit einer E-Mail, der Gemeindepräsident ist in den Ferien. Eine Gelegenheit zum Gespräch erhält sie erst Wochen später.
Nun beginnt der Kleinkrieg. Karin Widmer schafft es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Es sind subtile Dinge, die Betroffene sehr intensiv erleben und als negative Signale wahrnehmen, sagt Mobbingberaterin Claudia Stam. «Es fühlte sich an, als wollten sie mich loswerden», sagt Karin Widmer.
Der Gemeindepräsident ist plötzlich nur noch schwer zu erreichen, er verschiebt Termine mit Karin Widmer, beruft überraschend Sitzungen mit der Vizepräsidentin ein. Es gibt unerwartete Abmahnungen, einmal, weil Widmer angeblich unerlaubt einen Urlaub antritt , den sie Wochen zuvor eingetragen hatte. «Sie wollten mir drei Abmahnungen anhängen, um mich dann fristlos entlassen zu können», vermutet Widmer. Sie sagt die Ferien ab, ist aber noch stärker verunsichert. Es ist das Stigma des Selbstverschuldens, wie es die Fachliteratur zum Thema Mobbing beschreibt – bin vielleicht doch ich schuld?
Ein paar Wochen später muss Widmer ihren Platz am Schalter räumen. Sie soll nicht mehr direkt mit den Einwohnerinnen und Einwohnern kommunizieren. Ein weiteres Standbein bricht weg. Bei ihr habe man auch mal ausserhalb der Schalteröffnungszeiten vorbeischauen können, erinnert sich ein Dorfbewohner.
«Es fühlte sich an, als wollten sie mich loswerden.»
Karin Widmer, Mobbingopfer
Ende August 2018 findet Karin Widmer keine Ruhe mehr. Sie schläft kaum noch, tigert stundenlang in der Wohnung herum. Nachtspaziergänge, Beruhigungsmittel helfen schnell nicht mehr gegen die Schlaflosigkeit. Karin Widmer geht trotzdem weiter zur Arbeit, schliesslich schreibt der Hausarzt sie ein paar Tage krank
. Depressive Gefühle kommen auf, eine Psychiaterin verschreibt ihr stärkere Medikamente.
Zurück bei der Arbeit stellt sie fest, dass der Gemeindepräsident sie bei der Taggeldversicherung als Langzeitausfall angemeldet hat – fälschlicherweise nur mit einem 80-Prozent-Lohn. «Man wollte das Geld einfach einsparen», sagt Karin Widmer.
Es geht ihr nicht besser. Die Schlafstörungen und Schwierigkeiten bei der Arbeit bleiben. Sie kann nicht mehr abschalten, der Arbeitskonflikt lastet zu schwer auf ihr, der Druck ist permanent. «Ich verbarrikadierte mich in meiner Wohnung, wollte möglichst wenig Kontakt mit anderen.» Einkaufen geht sie nur noch knapp vor Ladenschluss, so muss sie mit niemandem reden.
Im Büro ist es noch schlimmer. «Ich kam mir vor wie in einem schlechten Theater, unsicher und blossgestellt im grellen Licht der Bühne.» Sie sucht sich einen Coach für diese Auftritte und eine Anwältin für ihre arbeitsrechtliche Situation. Und sie wendet sich an die Zürcher Mobbing-Expertin Claudia Stam. «Sie war insofern ein typischer Fall, als es für eine Mediation bereits zu spät war», sagt Stam. Karin Widmer hatte Symptome, die typisch sind für ein Burn-out: Schlaflosigkeit, Ratlosigkeit, aber auch einen trotzigen Willen, den Konflikt für sich «entscheiden» zu müssen. Kampfmodus
. «Wir mussten das so schnell wie möglich beenden», sagt Stam.
«Ich kam mir vor wie in einem schlechten Theater, unsicher und ausgestellt im grellen Licht.»
Karin Widmer, Mobbingopfer
Kündigen
sei keine Option gewesen. Jetzt, im Nachhinein, denkt Karin Widmer, wäre es wohl für ihre Gesundheit besser gewesen. Der Konflikt dauert. Und er wird teuer.
Mehr als 15'000 Franken gibt Karin Widmer für Anwälte, Coaches und Beratungsstellen aus. Im März einigt man sich nach einem mehrmonatigen Hickhack aussergerichtlich. Karin Widmer erhält 22'000 Franken, in der Einigung steht aber: «Die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses folgt der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin.» – «Der Vorwurf des Mobbings ist ausgeräumt», sagt der Gemeindepräsident heute. Zu Details will er keine Stellung nehmen.
Juristisch ist der Konflikt abgeschlossen. Die Folgen sind damit aber nicht verschwunden. «Ich fühle mich immer noch etwas ausgebrannt und müde», sagt Karin Widmer. Auch auf der Gemeindekanzlei rumpelt es. Es kommt zu drei Kündigungen. Die Stellvertreterin, die Zentralverwalterin und eine Gemeinderätin gehen auf Ende August. Die Gemeindekanzlei muss neu aufgebaut werden.
Eine späte Genugtuung für Karin Widmer? «Nein», sagt sie entschieden. «Für mich war viel wichtiger, dass ich zeigen konnte: Ich bin eine gute Arbeitskraft, ich kriege wieder eine Stelle.» Auf einer anderen Gemeindeverwaltung in der Region hat sie eine neue Anstellung gefunden – direkt im Anschluss an den aufgelösten Vertrag. Dreimal die Woche geht sie hin, sie arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum.
Manchmal fährt sie durch die Gemeinde, in der sie so viel Kummer erlebt hat. Es kommen ihr noch immer die Tränen, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Nach wie vor ist ihr nicht klar, weshalb man sie so urplötzlich loswerden wollte, «das werde ich wohl nie verstehen». Sie wisse heute, was Mobbing anrichten kann. «Ich empfehle allen Betroffenen: Holt euch rechtzeitig Hilfe bei Fachkräften.»
Es ist Nachmittag geworden. Draussen haben sie die Bühne aufgebaut. Ganz verzeihen werde sie wohl nie können, sagt Karin Widmer, als sie sich verabschiedet. Doch sie will vergessen. Sie will raus, raus aus diesem dunklen Tunnel.
* Name geändert
Ist das Arbeitsklima schlecht und kommt es zu Mobbing unter Mitarbeitern, ist Handeln gefragt. Als Beobachter-Mitglied erfahren Sie zum einen, wie Sie Konflikte am Arbeitsplatz ansprechen und was Sie gegen einen unfairen Chef tun können, zum anderen wie Sie gerichtlich vorgehen, wenn der Streit nicht einvernehmlich zu lösen ist.
In der Rubrik «Der Fall» geht es um Geschichten von Menschen, die eine Phase durchmachen, in denen es das Leben nicht gut meint mit ihnen. Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die einen Schicksalsschlag verkraften müssen – mit einer Spende können Sie mithelfen.
1 Kommentar
Eine ungute Rolle spielt in dieser Schaffhauser Mobbing-Sache der Gemeindepräsident der nicht genannten Gemeinde. Er sollte wieder mal das CH-Arbeitsrecht hervorholen und lesen. Fast würde man hoffen, dass ihm die Stimmbürger bei der nächsten Wahl die Quittung ausstellen für sein schlechtes Chefverhalten.