Das sind die Fakten: In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen verdoppelt, die psychiatrisch behandelt werden müssen, bei den psychiatrischen Notfällen in der Universitätsklinik Zürich sogar verdreifacht.

Wenn man sich auf die Suche nach den Gründen macht, landet man schnell bei der Schule und der Gymiprüfung Nachhilfe «Aber ich will doch gar nicht ins Gymi!» . Geschichten von Kindern, die mehrere Vorbereitungskurse parallel besuchen, sind rasch gefunden. Genauso wie Lehrerinnen, die über Eltern klagen, die alle paar Tage im Klassenzimmer auftauchen und schon für Drittklässler Zusatzaufgaben einfordern. Doch es wäre zu kurz gegriffen, allein den schulischen Druck verantwortlich zu machen.
 

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Kiffende Primarschüler

Viele Kinder, die zusammenbrechen oder austicken, landen bei Gregor Berger, Leiter des Zentralen Notfalldienstes am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Gerade jetzt, vor den Gymiprüfungen, und danach während der Probezeit von Gymnasium und Lehre ist bei ihm Hochbetrieb. Längst nicht nur Kinder von ehrgeizigen Akademikereltern Schule Die Streber-Eltern kommen zu ihm – aber auch.

Der Psychiater wünscht sich eine Schule, die sich mehr Zeit für das einzelne Kind und die Kernaufgabe – die Vermittlung von Grundfertigkeiten – nimmt. Er wehrt sich aber dagegen, nur die Schule in die Pflicht zu nehmen. «Die Sache ist komplex.» Er berichtet von Zwölfjährigen, die nächtelang Ego-Shooter-Games spielen, von kiffenden Primarschülern und Mädchen, die sich in TV-Serien wie «13 Reasons Why» verlieren. Die Serie dreht sich um den Suizid einer Highschool-Schülerin. «Nicht selten haben Eltern keine Ahnung, was ihre Kinder treiben, oder bringen nicht die Energie auf, sich durchzusetzen.»

Berger sagt: «Der erhöhte Medienkonsum bringt die Kinder an ihre Grenzen.» Er verweist auf den chronischen Schlafmangel. Stark unter Druck seien Kinder mit Migrationshintergrund Chancengleichheit in der Schule «Ihr Egoisten» – jene aus Syrien genauso wie jene, deren Eltern als Expats alle paar Jahre umziehen. «Gewachsene Familienstrukturen fehlen, Grosseltern in der Nähe gibt es nicht – und die Sprache bereitet Probleme.»

Aufhorchen lässt auch die repräsentative Jugendstudie «Juvenir» der Jacobs Foundation. Fast die Hälfte der befragten Jugendlichen gab an, Stress gehöre für sie zum Alltag. Stressfaktor Nummer eins seien die Schule und die Lehre. Ist es also doch vor allem der Leistungsdruck Leistungsdruck «Die Kinder wollen alles perfekt machen» , der die Kinder an den Rand des Wahnsinns treibt?
 

Viele Symptome

Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Lehrer-Dachverbands, spricht von einem «Problem unserer Zeit». Die Zahlen hält sie für besorgniserregend. «Die Leistungsgesellschaft fordert von Eltern und Lehrkräften, das Beste aus jedem Kind herauszuholen. Das ist nicht per se schlecht», sagt sie. «Geht der Druck aber mit wenig Geborgenheit und Zuwendung einher, führt das schnell zur Überforderung

Familien mit wenig Zeit und Ressourcen gebe es mehr und mehr, sagt Peterhans. Gute schulergänzende Angebote fehlten vielerorts. Eltern seien mit ihren Jobs und der Organisation der Kinderbetreuung am Anschlag. «Die Schulen können dies immer weniger auffangen. Zu grosse Klassen und der Anspruch, jedes Kind integrieren zu müssen, bringen Lehrkräfte an ihre Grenzen . Die Zeit für das einzelne Kind schwindet.»

Meist beginnt es mit unspezifischen Symptomen wie Bauch- oder Kopfweh, dann folgen Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme. Wenn die Drucksituation anhält, kommt es zu Ängsten, Depressionen oder Aggression.
 

«Die Bedürfnisse der Kinder sind zweitrangig geworden.»

Oskar Jenni, Kinderarzt am Kinderspital Zürich

Der Ursprung des Leidens liege in der Verunsicherung und Erschöpfung vieler Eltern, vermutet Sabine Wieser*, Sekundarlehrerin aus der Ostschweiz. «Welche Mutter, welcher Vater fühlt sich im Job noch sicher? Wer vertraut darauf, dass die Kinder eine gute Zukunft haben Schule «Die Angst ist gross, dass das Kind den Anschluss verliert» ? Wer glaubt, dass die Gesellschaft auch jene wertschätzt, die nicht schön, erfolgreich, leistungsfähig sind?» Das sei, was die Kinder unbewusst mitbekämen. «Diese diffuse Angst der Eltern, ausgespuckt zu werden – sie bricht sich Bahn, wenn ein Kind irgendwo aneckt.»

Die neue Auswertung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) gibt an, wie dramatisch die Zahl derer steigt, die nicht mithalten können. Zum Beispiel bei den unter 18-Jährigen, die sich in einer Psychiatriepraxis behandeln liessen: 2006 waren das noch 25 von 1000, im Jahr 2017 schon 41 – ein Plus von 64 Prozent. Noch deutlicher zeigt sich der Effekt in der Spitalpsychiatrie. Die Zahl der Konsultationen von Kindern und Jugendlichen nahm in dieser Zeit um 120 Prozent zu.
 

Frühförderung statt Familie

Kinderarzt Oskar Jenni, der im Kinderspital Zürich die Abteilung Entwicklungspädiatrie leitet, findet deutliche Worte. «Bildungsdruck und Frühförderung Frühförderung Wie man Kinder auf den richtigen Weg bringt haben die ursprünglichen familiären Werte ersetzt, sie werden mehr und mehr der wettbewerbsorientierten Wirtschaft unterworfen.» Jenni spricht von einer strukturierten, ja geradezu industrialisierten Kindheit. «Der Rohstoff Kind wird verarbeitet, geformt, gefördert und gebildet.» Die Bildung werde heute als wichtigster wirtschaftlicher Erfolgsfaktor eines Landes verstanden, verantwortlich sei die Schule. «Die Bedürfnisse der Kinder sind zweitrangig.»

«Wann haben Sie den letzten guten Eltern-Kind-Moment mit Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter erlebt?», fragt Psychiater Gregor Berger die Eltern jeweils, wenn sie mit ihrem Kind im Notfall auftauchen. Oft folge langes Schweigen.
 

Fehlende Familienzeit

Berger, Vater von vier Kindern, kennt die Wochenenden, an denen sich die Eltern zwischen Chauffeurdiensten, Einkaufen und Wörtchenabfragen aufreiben. «Die Zeit, einfach zu sein, fehlt heute in vielen Familien – und die wäre wichtig.»

Und dann windet Berger dem Schweizer Bildungssystem ein Kränzchen, in der Hoffnung, dass es viele Eltern zur Kenntnis nehmen. «So durchlässig wie heute war es noch nie. Es gibt objektiv gesehen keinen Grund mehr, ein Kind irgendwohin zu drängen.»

Dann erzählt Gregor Berger von einem seiner Assistenzärzte, der nach Kochlehre, Berufsmatura und Passerelle Medizin studiert hat. «Jedes Kind entwickelt sich anders. Alles, was Eltern tun müssen, ist, dafür zu sorgen, dass es in einem Umfeld aufwächst, in dem es gesund bleibt und sich entfalten kann. Der Rest kommt von allein.»


* Name geändert

Hilfe in Krisen 
  • Für Kinder und Jugendliche: 147 
  • Elternnotruf: 0848 35 45 55
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